Werte können über lange Phasen Bestand haben. Die vergangenen drei Jahre, die von Corona-Pandemie, dem Krieg in der Ukraine und in der Folge von Ressourcenmangel sowie hoher Inflation geprägt sind, rütteln allerdings an verfestigten Haltungen. Wachsende Politikverdrossenheit, der Vertrauensverlust in Medien und der Klimawandel tun ein Übriges, um unseren ethischen Kompass umzupolen.
Die aktualisierte Zukunftsstudie "Values & Visions 2030", die GIM gerade vorgestellt hat, macht einen massiven Wertewandel deutlich. Er wird Gesellschaft, Wirtschaft und Medien in diesem Jahrzehnt prägen.
Seit 1992 erforscht das Heidelberger Marktforschungsteam die Wertewelt der Konsument:innen. Die jetzt vorgelegte, überarbeitete Zukunftsstudie "Values & Visions 2030“ der GIM beschreibt ganz neue Einstellungen der Menschen in Deutschland. Mit Folgen für Marken und Medien: Die Interessen haben sich massiv verschoben. Weit oben auf den persönlichen Agenden stehen demnach Themen, die in den Jahrzehnten zuvor als nachrangig dargestellt wurden. Dazu zählt etwa die mentale Gesundheit.
Eine zentrale Erkenntnis des Werte-Werks lautet: „Die Menschen brauchen eine hoffnungsvolle Zukunftsperspektive.“ Das GIM-Team rät Unternehmen, die Sorgen und Befürchtungen der Bürger:innen ernst zu nehmen, ihnen Hoffnung zu geben und ihre Sehnsüchte zu befriedigen.
Die Zukunftsstudie spricht vorrangig werbungtreibende Unternehmen an, die auf Basis von Werten und Trends ihre Kommunikation abstimmen. Die Werbeumfelder – sprich: die Medien – müssen allerdings ihre Inhalte ebenso auf die Stimmungen der Konsument:innen abstimmen. Nur der Content ist interessant, der im Einklang mit den eigenen Werten steht, die sich massiv wandeln.
So sehen die Menschen den Klimawandel als die zentrale Herausforderung der Zukunft. Das GIM-Werk, für das mehr als 1500 Menschen befragt wurden, führt den Einsatz für Nachhaltigkeit als zentrales Hoffnungsthema der kommenden Jahre ein, unter anderem durch verantwortungsvolleren Konsum. Wichtig seien den Befragten bei diesem Thema vor allem drei Dinge, heißt es: Kommuniziert werden sollte nicht die Geschichte des Verzichts, sondern vielmehr, dass Menschen auch mit einer nachhaltigen Orientierung Spaß haben und sich Wünsche erfüllen können.
Daneben sollte glaubwürdig gehandelt werden; „Greenwashing-Aktionen“ würden in Zukunft von den Usern noch stärker abgestraft. Zudem sei es wichtig, die „große Gruppe der pessimistischen Personen“ bei zukunftsweisenden Themen nicht allein zu lassen und ihnen „den persönlichen Mehrwert aufzuzeigen“, wie es in "Values & Visions 2030“ heißt.
Die Studie zeichnet fünf Megatrends, die GIM zufolge das ganze Jahrzehnt prägen werden:
Abgeleitet aus der neu formierten Werteskala und den Megatrends führt "Values & Visions 2030“ einige Handlungsempfehlungen an.
Der Zukunftsstudie zufolge blicken die Deutschen mit großer Sorge auf die "zunehmende Algorithmisierung". Viele würden es ablehnen, sich via KI analysieren zu lassen. Nicht einmal zehn Prozent der Befragten halten dies für erstrebenswert. 74 Prozent der Befragten sehnen sich dagegen nach digitalen Detox-Zeiten.
GIM empfiehlt: „Künstliche Intelligenz muss sinnvolle Beiträge bei gesellschaftlichen Problemen leisten. Nur so wird sie zukünftig sinnstiftend und weniger bedrohlich auf die Menschen wirken.“ So könnten praktische Apps im Gesundheitsbereich auf das Vertrauen der Menschen in digitale Hilfsmittel stärken.
Die Studie arbeitet die Ambivalenz der Verbraucher:innen in der Frage heraus, einerseits nachhaltig leben zu wollen, aber nicht auf Flugreisen oder ein dickes Auto zu verzichten. Wie oben bereits erwähnt, sollte die Kommunikationsbranche hier mit positiven Inhalten auf die User einwirken. Es gilt, Nachhaltigkeit und Konsum in Zukunft miteinander in Einklang zu bringen. GIM hält fest: Die Menschen „glauben, dass Genuss und Nachhaltigkeit in Zukunft miteinander vereinbar sein werden und nachhaltiger Konsum Spaß machen wird.“
Die Menschen befinden sich im Spagat zwischen mentaler Gesundheit und Achtsamkeit, individueller Freiheit und Genuss. Die Studie meint: Die Mehrheit der Deutschen habe das starke Bedürfnis, sich selbst etwas Gutes zu tun. Aber: mit gutem Gewissen der Welt und der eigenen Gesundheit gegenüber. Verwöhnen mit gutem Gewissen sei daher "erlaubt".
Daraus folgt, dass es beim Konsum von Produkten und Inhalten erst einmal darum geht, die eigene mentale Gesundheit zu stärken. Erst dann steht das Gemeinwohl an. "Genussmomente" sollten im ersten Schritt herausgestellt werden und dafür sorgen, dass die Abnehmenden kein schlechtes Gewissen haben. Das schafft GIM zufolge neue Möglichkeiten für Premiumprodukte und -dienstleistungen mit „Purpose“.
Die Befragten der GIM-Studie gehen davon aus, dass die individuelle Freiheit 2030 weiter an Bedeutung gewinnen wird. Laut "Values & Visions 2030" erwarten die Menschen eine zunehmend egoistischere Gesellschaft, sehnen sich aber gleichzeitig nach Gemeinschaft und Verantwortung.
Die Forscher raten zu Projekten, die die Zusammenarbeit mit anderen fördern. Innovationen sollten in Vernetzung forciert werden. Hierin sieht GIM eine wachsende Bedeutung digitaler Tools.
2030 würde noch deutlicher ein Unterschied zwischen einem authentischen Ausdruck der eigenen Individualität und einer inszenierten Zurschaustellung der eigenen Person gemacht werden, heißt es in dem Werk. Und: „Die Menschen befürchten, zukünftig noch stärker mit für die Performance optimierten Onlineauftritten konfrontiert zu werden, die kaum reales Identifikationspotenzial mehr bieten.“ GIM rät vor diesem Hintergrund, dass vor allem Social-Media-Auftritte wieder zu mehr Natürlichkeit inspirieren sollten. „Unnatürliche Selbstinszenierungen“ würden zunehmend kritisch gesehen.
Unsicherheit und abnehmender Optimismus wirken sich laut GIM auf das Konsumverhalten und die Beziehung zwischen Marken und Menschen aus. Um erfolgreich zu bleiben, müssten Unternehmen ihre Kund:innen „glaubwürdig durch Krisen begleiten, sie unterstützen, ihnen Halt und Orientierung geben“. Die Studienergebnisse würden Chancen aufzeigen: Es gilt, „jene Werthaltungen zu fördern und weiterzuentwickeln, die heute mit Hoffnungen verbunden sind, und jene abzufedern, die Befürchtungen auslösen“.
Die Heidelberger Forscher appellieren an Organisationen, dass sie „krisenresilienter“ werden müssten. Dafür genüge es längst nicht mehr, rein gegenwartsbezogene Strategien zu entwickeln.
Die Zusammenfassungen wichtiger Panel-Diskussionen sowie Bildmaterial der 36. MEDIENTAGE MÜNCHEN stehen in der Mediathek der Medientage-Homepage und auch im Blog der Medientage bereit.
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