Wie positioniert sich das gute alte Fernsehen inmitten der boomenden Bewegtbild-Branche, getrieben vom überreichen Angebot der expansiven Streaming-Plattformen? Das war eine der zentralen Fragen der verschiedenen Sessions rund um TV im Rahmen der MEDIENTAGE MÜNCHEN 2021. Es gab spannende Antworten.
Im klassischen TV-Sektor wird mit Leuchtturmprojekten experimentiert, zuletzt am vergangenen Wochenende mit dem Revival des Showklassikers „Wetten, dass…?“ beim öffentlich-rechtlichen ZDF unter Rekord-Publikumsbeteiligung. „Es ist nicht alles Quote, es ist nicht alles Werbeumsatz.“ Mit diesen Worten beschrieb ProSiebenSat.1-Manager Daniel Rosemann im Rahmen der #MTM21 das neue Selbstverständnis von ProSieben. Als Beispiel nannte er die preisgekrönte Reportage „Rechts. Deutsch. Radikal“ des Journalisten, Reporters und TV-Produzenten Thilo Mischke, die ohne Werbeunterbrechungen ausgestrahlt wurde.
Das Ziel laute, so erklärte Rosemann: „Ikonische TV-Abende zu schaffen, die so groß werden, dass man darüber zumindest am nächsten Tag noch spricht.“ Dies sei auch für das Image eines TV-Programms gut. „Wir haben uns in den letzten fünf Jahren gemeinsam weiterentwickelt. Wir sind kein Experiment mehr, wir sind gesetzt“, fügte Mischke hinzu. Und Rosemann versicherte: „Wir haben Mut und Lust auf Reportagen zur Primetime.“ Beide stellten außerdem ein großes Interesse der Zuschauer:innen an der Wirklichkeit fest.
Und: Herausragende Sport-Events entfachen auch weiterhin ein Fernseh-Lagerfeuer. Dabei spielt die Inszenierung mit Hilfe digitaler Technologie eine wachsende Rolle. „Das Live-Event als solches reicht nicht mehr“, betonte etwa Alessandro Reitano, Senior Vice President Sports Production bei Sky Deutschland bei den Medientagen 2021. Vielmehr müssten die Anbieter Mehrwerte für die Zuschauenden schaffen. Zusätzliche Features wie die Personalisierung müssten künftig auch in den First Screen integrierbar sein, forderte der Sky-Produktionschef.
Im Interview mit Moderatorin Anett Sattler von Magenta Sport stellte Andreas Gerhardt die Refinanzierung der Angebote in den Fokus. Der Chief Distribution Officer von Sport1 schilderte dabei die fundamentale Bedeutung der Fernsehwerbung, die erst den Kauf von Rechten und eine hochwertige journalistische Produktion ermögliche. Die Sendung „Doppelpass“ etwa sei „ein ganz entscheidendes Nachverwertungsrecht“. Schwieriger sei es hingegen, mit Streaming-Angeboten die Kosten zu decken. Dennoch setzt das Unternehmen auch auf die im September gestartete Plattform Sport1 Extra, die zum Beispiel die ganze Breite des Volleyballs abdecken und Differenzierungsmöglichkeiten schaffen könne.
Für König Fußball werden derweil alle Register gezogen, um mit den Inhalten auch TV-ferne junge Zielgruppen zu erreichen. Andreas Heyden, Geschäftsführer von DFL Digital Sports, hat bereits Erfahrungen mit Hochformatbildern gemacht: Der „Super Cup 2021“ beispielweise wurde für Sat.1 Ran komplett eigenständig und live als Vertical produziert. Allein auf TikTok erreichte das Format laut Heyden mehr als 1,1 Millionen Zuschauende. „Der Zündstoff für Innovationen ist für uns das Dreieck aus Augmented Reality, Artificial Intelligence und 5G“, verriet der Digitalexperte der deutschen Fußballliga bei den #MTM21.
„Große Sport-Events wie das Champions-League-Finale haben weiterhin die Kraft, Lagerfeuermomente zu erzeugen“, betonte Felix Krause, Vice President Customer & Corporate Strategy bei DAZN. Dennoch sei es für den Streaming-Anbieter entscheidend, ein ganzheitliches Sportangebot zu servieren. DAZN teste daher sehr intensiv Nicht-Live-Formate. Zugleich erkennt Krause derzeit ein „gewisses Momentum“ für das Streaming: Bis 2025 rechnet der Vice President mit jährlichen Wachstumsraten von etwa drei Prozent für Video-on-Demand-Services, während er die Marktdurchdringung durch klassische Pay-TV-Anbieter stagnieren sieht.
Als zentrale Vorzüge des Übertragungswegs bezeichnete der DAZN-Manager bei den Medientagen die Interaktivität und Flexibilität des Streamings, die auch völlig neue Commerce-Erfahrungen ermögliche.
Wir wollen Menschen mit Technik und Features begeistern, die bisher gar nicht bereit waren, für Sport zu bezahlen.
Felix Krause, DAZN
Damit sprach DAZN-Manager Krause einen Punkt an, der auch den TV-Gipfel am Dienstag der Medientage 2021 prägte: das wachsende Erlöspotenzial durch Abrufinhalte. Die Gipfel-Runde von deutschen Senderverantwortlichen sah im Nebeneinander von Live-TV-Ausstrahlung und Streaming-Angeboten kein Problem, zumal alle Teilnehmenden längst sowohl mit linearen als auch non-linearen Ausstrahlungswegen vertraut sind.
Stichwort: „Windowing“. Unternehmen wie ProSiebenSat.1 und die RTL-Familie setzen längst auf die orchestrierte Mehrfachverwendung von Inhalten über mehrere Trägermedien.
Deutlich wurde bei der Münchner Konferenz die rasante Weiterentwicklung des Streaming-Marktes. Ein Beispiel: die App ScreenHits TV, hinter der Gründerin und CEO Rose Hulse steckt. Nach dem Start in Großbritannien und den USA ist Screenhits TV seit August auch in Deutschland erhältlich. Der Streaming-Aggregator bietet alle Inhalte von Netflix, Amazon, Prime, Disney+ und in Deutschland auch von Joyn auf einen Blick. Rund 500.000 Kund:innen nutzten das Angebot, berichtete Hulse bei den 35. Medientagen. Ihr Produkt sehe sie vor allem als Werkzeug zur Selbstorganisation: „Ich möchte das Leben der Nutzer:innen einfacher machen.“ Mit der Methode, bestehende Angebote zu akkumulieren und die Kunden zum Anbieter weiterzuleiten, erhalte Screenhits TV viel Zuspruch aus der Branche.
Der Kampf um Aufmerksamkeit wird indessen immer härter, denn neben den klassischen TV-Programmanbietern buhlen die Streaming-Portale um die Gunst des Publikums mit großem Geldeinsatz. So hat Netflix im September angekündigt, 500 Millionen Euro in deutschsprachige Inhalte investieren zu wollen. Die Nachfrage nach frischem Content steigt rasant und die Produktionen laufen auf Hochtouren.
Für die erfahrene Produzentin Nanni Erben ist dies gerade eine inspirierende Zeit: „Wir alle spüren den Boom, den Aufbruch und Wandel“, so die Geschäftsführerin und Produzentin von MadeFor Film. Dies gelte vor allem auch für die Inhalte, die sich im Laufe der vergangenen Jahre mit dem Verhalten der Zuschauer:innen verändert hätten.
Wir produzieren heute fast nur noch Reihen und Serien und fast keine 90-Minüter mehr.
Nanni Erben, MadeFor Film
Auch die Konzeption der Serien habe sich gewandelt, so Erben. So würden heute statt wöchentlich ausgestrahlter Episoden vorwiegend horizontal konzipierte Reihen produziert. „Schließlich bietet sich mit dem Streaming die Möglichkeit, viele Stunden am Stück in die Charaktere und Geschichten einzutauchen“, erläuterte die Produzentin.
Auch Dr. Nadine Bilke (Foto oben), Programmchefin von ZDFneo, beobachtet eine hohe Dynamik im Markt: „Die Geschwindigkeit nimmt zu und in der Branche ist viel in Bewegung gekommen.“ Deshalb sei es wichtig, die eigene DNA zu kennen und zu pflegen, gleichzeitig aber immer auch einen Blick auf die Konkurrenz zu werfen. Bilke findet es im Wechselspiel zwischen linearem und non-linearem Bewegtbild besonders interessant zu schauen, „wie wir die verschiedenen Formate platzieren können, um die unterschiedlichen Nutzungsgewohnheiten zu bedienen. Da wird viel ausprobiert und die beiden Nutzungsmodelle können sich gegenseitig triggern.“
Das vergleichsweise junge Streaming-Portal Joyn der ProSiebenSat.1-Gruppe setzt ebenfalls gezielt auf Eigenproduktionen. „Durch das breite Portfolio von Free bis Premium können wir unterschiedliche Zielgruppen adressieren“, erklärte Lena Wickert (Foto oben, rechts), die als Executive Producer & Team Lead Original Production bei Joyn arbeitet. Im Free-Bereich liege die Kernzielgruppe beim Publikum im Alter von etwa 20 Jahren: „Für dieses junge Segment ist es uns mit Joyn gelungen, die Lücke zwischen YouTube und linearem TV durch wertigen Content mit Video-Charakter zu schließen“, schilderte Wickert das Joyn-Konzept.
Joel Berger, Industry Leader Media & Public bei Google Deutschland, riet den Anbietern dazu, über Werbung „Awareness zu schaffen“ und Audience-Targeting zu nutzen. Außerdem empfahl er, als „Schaufenster“ für Streaming-Inhalte YouTube einzusetzen.
Nelli Hergenröther (Foto oben, neben Ramy Nasser, ScreenHits TV), Managing Partnerin der Berliner Software-Agentur Evenly, beschrieb anhand der Arte-App, wie sich ein Angebot jenseits von Algorithmen den Nutzerbedürfnissen anpassen lässt. Evenly hat die Arte-App schon mehrmals überarbeitet. So sei die gesamte Aufmacherseite fluide, um zum Beispiel bei der Verkündung der Nobelpreise reagieren zu können. Ziel sei allerdings auch hier, die Menschen „möglichst lange in der App zu halten“.
Auf dem Podium herrschte Einigkeit: Ausschließlich auf Algorithmen zu setzen, sei nicht zielführend.
So viel zu neuen Kanälen und Content-Formaten; doch es ging bei den Medientagen 2021 auch um neue Geschäftsmodelle. So existieren neben dem Werbemarkt mittlerweile zahlreiche weitere Erlösquellen, die von Paid Content über Abonnement-Modelle oder Advertising-Video-on-Demand (AVoD) bis hin zu E-Commerce oder Donation-Modellen (Spenden, Stiftungen) reichen. Aus Sicht von Klaus Böhm, Media & Entertainment Lead von Deloitte Consulting, steht der Markt an einem Wendepunkt. In der Studie „The Future of Media Monetisation: Four Scenarios" hat Deloitte daher untersucht, worauf sich Medienunternehmen, Werbetreibende, Plattform-Betreiber und weitere Beteiligte der Medien-Wertschöpfungskette künftig einstellen müssen.
Zwei Leitfragen, die die Medienbranche der Zukunft entscheidend prägen würden, stünden dabei im Mittelpunkt, erklärte Böhm: Bewege sich das Szenario eher in Richtung eines offenen Systems, das auch für kleinere Player frei zugänglich sei und in dem die Konsument:innen ein reichhaltiges Angebot vorfänden, aus dem sie nach individuellen Vorlieben wählen können? Oder werde der Zugang zum Markt und damit auch die Angebotsvielfalt durch Gatekeeper eingeschränkt?
Daraus entwickelte Deloitte nach eigenen Angaben vier teils extreme, aber realistische Szenarien, die aufzeigen sollen, wie die Medienwelt künftig aussehen könnte. Susanne Aigner, Geschäftsführerin von Discovery für Deutschland, Österreich, Schweiz und Benelux-Länder, sowie Dr. Christoph Schneider, Geschäftsführer von Amazon Prime Video Germany, ordneten die Ergebnisse ein und machten deutlich: Für Konsument:innen dürfe der Markt nicht zu unübersichtlich werden. Und globale „Zugpferde“ seien zwar wichtig, aber mit lokalen Inhalten erreiche man den Menschen leichter.
Den Wert von lokalem Content wissen Aigner und Schneider zu schätzen: „Wir sind zwar global aktiv, aber versuchen immer wieder auch, Nähe durch lokalen Content herzustellen", so der Amazon-Manager. Dabei stelle sich auch die Frage: „Wandert der lokale Erfolg dann auch ins Globale?“
Als Haus mit verschiedenen Inhalte-Strategien war die weltweit aktive Mediengruppe ViacomCBS bei den #MTM21 präsent. Der Konzern konzentriert sich im Streaming-Bereich auf das Angebot Paramount Plus, dessen Start in Deutschland für 2022 geplant ist. Daneben liegt der Fokus auf dem Live-TV-Angebot Pluto TV, dessen Werbeeinnahmen nach eigenen Angaben zuletzt bei einer Milliarde Dollar lagen.
Als „breit angelegtes Premium Entertainment“ definierte Kelly Day, President Streaming bei ViacomCBS, ihren Content. In ihrem „Market-to-market-Approach“, der regionale Unterschiede berücksichtige, setze sie auf die Wechselwirkung zwischen dem Abo-Modell von Paramount Plus und werbefinanzierten Gratis-Inhalten bei Pluto TV. Letzteres bilde wiederum eine Werbeplattform für den Paid Content des Hauses. Das sei aber erst der Anfang, erklärte Day: „Wir müssen uns bewusst sein, dass wir uns noch in der absoluten Streaming-Frühzeit befinden.“
Aber auch das gute alte Fernsehen streift sich neue Kleider über: dank Smart TV als zunehmend über das Internet vernetztes Medium Fernsehen. Im Konferenzteil Connect! The Future of TV stand der digitale Transformationsprozess der TV-Branche im Mittelpunkt. Den Kern bilde die verbesserte Erhebung und Nutzung von Daten der Zuschauer:innen. Dadurch könnten Bewegtbildinhalte besser auf die Sehgewohnheiten der Nutzer:innen zugeschnitten und die Oberflächen von Bildschirmen einfacher und somit nutzungsfreundlicher gestaltet werden. Die Teilnehmenden des ersten Teils der von der MEKmedia GmbH organisierten Gesprächsreihe waren sich des Weiteren darüber einig, dass mehr und bessere User-Daten den „neuen Bewegtbildkosmos“ für Werbungtreibende attraktiver machen würden.
Bessere Content-Empfehlungen für das Publikum basierten auf persönlichen Daten, erläuterte der für Deutschland, Österreich und die Schweiz zuständige Head of Sales der Werbeplattform Samsung Ads, Christian Russ. Daher werde die Datenerhebung „in der Privatsphäre“ immer wichtiger. Alen Nazarian, Co-Geschäftsführer von d-force, einem Joint Venture zur Entwicklung programmatischer Werbeformen, unterstrich, dass Werbung „gattungsübergreifend“ und „nicht nur fürs TV“ funktionieren müsse. In der vernetzten Medienwelt sei konvergente Kampagnenplanung sehr wichtig und lernbar.
Kerstin Niederauer-Kopf, die als Vorsitzende der Geschäftsführung der AGF Videoforschung für die strategische Entwicklung der TV- und Videomessung verantwortlich ist, erklärte, dass sich die Zielgruppen im vernetzten Bewegtbildmarkt „zunehmend fragmentieren“ würden. Daher sei die Erhebung zusätzlicher Nutzungsdaten notwendig, um weitere repräsentative Daten-Panels aufzubauen. „Aus Device-Daten Personendaten machen“, das sei die Herausforderung.
Im Rahmen des Specials wurde übrigens in Kooperation mit der Deutschen TV-Plattform zum zweiten Mal der Smart TV Award verliehen:
Die Video-Aufzeichnungen vieler Sessions der 35. MEDIENTAGE MÜNCHEN sind noch bis Ende November on Demand verfügbar.
Außerdem stehen die Zusammenfassungen wichtiger Panel-Diskussionen sowie Bildmaterial in der Mediathek der Medientage-Homepage und auch im Blog der Medientage bereit.
Die Medienthemen können auch gehört werden: im Podcast der Medientage München.