Herauszufinden, was Menschen antreibt und was sie empfinden, ist ihre Leidenschaft. Die Diplompsychologin und Buchautorin Ines Imdahl erforscht seit vielen Jahren die Motive für die Mediennutzung und die Werbewahrnehmung. "Wenn Sie wirklich wissen wollen, warum" ist auch das Motto ihres Marktforschungsunternehmens rheingold salon, das sie gemeinsam mit ihrem Mann Jens Lönneker führt.
Frau Imdahl, haben sich die Motive für die Mediennutzung durch die Pandemie verändert?
Einige sind neu dazugekommen, andere wurden verstärkt. Das Fernsehen hat vor allem für junge Menschen neue Funktionen erfüllt. Es hat dem Tag einen Rahmen gegeben und ein Fenster zur Welt geöffnet.
Die Millennials haben Ersatzerlebnisse in TV-Shows gesucht, als sie nicht mehr ausgehen und reisen konnten. Das Leben der anderen wurde zum Geschichtenlieferanten. Im zweiten Lockdown kam die glückliche Selbstsedierung dazu. Viele flüchteten in die Parallelwelt der Streamingdienste – ein Realitätsausstieg auf Zeit.
Aktuell kämpfen die TV-Sender mit 20 Prozent Sehdauerverlust, Netflix hat einen Großteil seiner Marktkapitalisierung verloren – kommt jetzt die Rolle rückwärts?
Wir beobachten, dass die Menschen von der Auswahl der Streamingdienste überfordert sind. Am Anfang war die Verheißung groß, sich sein Programm selbst zu gestalten. Doch für viele endet der Abend mittlerweile in einer endlosen, unbefriedigenden Suche. Man findet nie das Richtige, fängt vieles an, guckt nichts zu Ende.
Wir sehen auch, dass dieses Verhalten, das wir aus den Onlinemedien kennen, auf das Fernsehen überschwappt. Schon nach fünf Minuten gibt man dem Film keine Chance mehr, schaltet um, sucht weiter. Die Menschen haben verlernt sich zu fokussieren, dranzubleiben, Dinge abzuschließen.
Vor allem Teens und Twens scrollen immer schneller durch die Feeds. Im Schnitt wird ein Onlinevideo nur noch 4,5 Sekunden lang geguckt.
Ein Tutorial auf YouTube anzuschauen, kann heute schon als intensive Auseinandersetzung mit einem Thema gelten. Die Onlinevideos werden immer kürzer. Bei Instagram findet man noch einminütige Reels, bei TikTok sind die Top-viralen Videos gerade mal sieben Sekunden lang.
Um erfolgreich zu sein, müssen sie sofort emotionale Reaktionen herstellen. Rührung, Lachen, Ekel, Überraschung – für all das bleiben nur wenige Sekunden. Der emotionale Shortcut ist ein Megatrend der sozialen Medien.
Welche Konsequenzen hat das?
Es gibt immer mehr Plattformen und immer mehr Möglichkeiten. Was auf der einen Seite aussieht wie die große Freiheit, bedeutet auf der anderen den totalen Kontrollverlust. Wir fangen alles an und bringen nichts zu Ende. Die immer kleineren Einheiten und die fehlende Gestaltschließung stressen uns.
Früher hat man gesagt, die Eisenbahn sei zu schnell, da komme die Seele nicht hinterher, heute gilt das für TikTok und Instagram.
Sie haben erklärt, dass sich TikTok in der Pandemie zum virtuellen Schulhof entwickelt hat, Instagram zur harmonischen Ersatzwelt. Bleibt das so, wenn Alltag und Mobilität zurückkehren?
Wir sehen, dass beide Plattformen munter weiterwachsen. Derzeit gehen 74 Prozent der Jugendlichen bis zu 20 Mal am Tag auf Instagram. Sie suchen die schöne heile Welt, die nahezu frei von Hass und fiesen Kommentaren ist. Die seelischen Funktionen von TikTok haben sich nach der Pandemie sogar noch verstärkt, weil die Kids jetzt wieder in der realen Welt zeigen können, dass sie die Codes beherrschen: Sie wissen, welche Musik, welche Tanzschritte, welche Klamotten gerade trenden.
Hier geht es nicht ums Selbermachen, sondern um die perfekte Kopie. Das ist eine komplett neue Aneignungsform der Welt.
In Werbewirkungsstudien schneiden die Jüngeren mittlerweile schlechter ab, als die ältere Generation. Überrascht Sie das?
Überhaupt nicht. Wenn wir heute Probanden eine halbe Stunde TikTok oder Instagram gucken lassen, können sie sich hinterher an kaum etwas erinnern, unabhängig davon, ob es um Werbung oder andere Inhalte geht. Man muss etwas durcharbeiten, damit etwas hängenbleibt, neue Informationen müssen an Ankerpunkte in unserem Gedächtnis andocken.
Werbewirkung braucht Geschichten, die man mit Marken verbindet. Der GenZ fehlt diese Brand Education weitgehend.
Wie kann man eine Geschichte in 4,5 Sekunden erzählen?
Das funktioniert natürlich nicht. Die Social-Media-Plattformen empfehlen ihren Kunden deshalb: Starten Sie mit dem Logo und dem Produkt. Leider führt das aber dazu, dass die Videos langweilig sind und sich die 4,5 Sekunden weiter verkürzen.
Psychologisch ist das offen gesagt Unfug. Marken müssen wieder Geschichten erzählen, die die Menschen fesseln. Werbung muss es schaffen, dass sie freiwillig geguckt wird. Sie darf nicht mit dem Vorschlaghammer kommen. Der Mehrwert für die Menschen muss im Mittelpunkt stehen und nicht die Marke.
Unter den schnellen Fingern der GenZ leiden vor allem die Medien, über die man sie zu erreichen versucht – ein ziemliches Dilemma.
Darunter leiden nicht nur die Sozialen Medien. Unserer Kultur droht der mediale Burnout, denn die Zerstückelung des Zusammenhangs und die permanente Ruhelosigkeit durch immer kleinteiligere Reize überträgt sich auf alle Medien.
Die tiefe Sehnsucht, etwas durchzuhalten und abzuschließen, wird zunehmend außerhalb der Medien befriedigt, zum Beispiel im Digital Detox, in Tagesroutinen, Auszeiten, Yoga oder beim Heimwerken.
Die Hirnforschung geht davon aus, dass das Gehirn so wird wie man es benutzt. Das sind keine besonders rosigen Aussichten.
Wir dürfen uns dem Druck nicht beugen, alles in wenigen Sekunden unterzubringen. Es lohnt sich, in Geschichten zu investieren. Nur wenn wir Geschichten mit einem Anfang und einem Ende haben, sind wir glücklich und zufrieden.
Zur Person:
Ines Imdahl studierte an der Universität Köln Psychologie mit dem Schwerpunkt Morphologie. Seit Januar 2000 war sie Geschäftsführerin und Inhaberin bei rheingold. Sie hat das rheingold Institut, eine der renommiertesten internationalen Adressen für tiefenpsychologische Markt- und Medienforschung, mitgeprägt und aufgebaut.
2011 gründete die Diplom-Psychologin zusammen mit Jens Lönneker den rheingold salon, eine tiefenpsychologisch arbeitende Forschungsagentur, die Emperie, Strategien, Gestaltung und Umsetzungsprozesse verbindet. Die Arbeitsschwerpunkte von Ines Imdahl liegen in der psychologischen Markt- und Kulturforschung, besonders im Bereich Frauen- und Jugendforschung, sowie Werbewirkungsforschung. Ihre zahlreichen Studien, Veröffentlichungen und die Medienpräsenz rund um das Thema Frauen, Jugend und Werbung unterstreichen ihre unbestrittene Kompetenz auf diesen Fachgebieten.
Ines Imdahl ist verheiratet und hat vier Kinder. Neben ihrer Arbeit steht die Familie an erster Stelle.
Fotografiert wurde Ines Imdahl von Roland Breitschuh.
Die MEDIENTAGE MÜNCHEN 2022 finden vom 18. bis 20. Oktober vor Ort in München statt. Dabei blicken wir unter anderem im Rahmen der TV- und Streaming-Tracks auf die Herausforderungen in Krisenzeiten, auf verändertes Nutzungsverhalten und zeigen neue Perspektiven sowie Geschäftsmodelle der Anbieter auf.
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