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Sechs Thesen zur Zukunft des Video-Streamings

Geschrieben von Susanne Herrmann | 28. Dezember 2021

Wie wir fernsehen, hat sich innerhalb recht kurzer Zeit spürbar verändert. Deutlicher noch als Farbfernsehen und der Start der privaten Sender in den Goldenen 80ern. In den vergangenen Jahren des digitalen Zeitalters griffen die Zahnräder von Angebot und Technik perfekt ineinander. Inzwischen läuft das Video-Streaming über alle Kanäle und Geräte wie geschmiert – und als zusätzlicher Schmierstoff kam 2020 noch eine Pandemie dazu: Mehr Menschen waren öfter zu Hause und brauchten Information ebenso wie Unterhaltung.
Wo soll das noch hingehen mit dem Streaming? Sechs Thesen.

 

Gekommen, um zu bleiben: Die Macht der bunten Bilder hat uns im Griff (Foto: Adobe Stock)

  • „Die Glotze ist doch das größte“

Frei nach Udo Jürgens‘ (1982) „Die Glotze“, die unserem Leben seit der Ära des Kommerzfernsehens „erst den Drive“ gibt, betrifft das heute zusätzlich zum klassischen Fernsehen das Streaming – das ist gekommen, um zu bleiben.

Sieben Jahre nach seinem Start in Deutschland ist Netflix nun ein Dauergast in deutschen Wohnzimmern. Andere Abo-Dienste (SVoD) zogen nach, darunter etwa mit gleich hohen Nutzerzahlen Amazon Prime Video. Inzwischen buhlen zahlreiche abo- und werbefinanzierte Bewegtbildanbieter auf dem deutschen Markt um unsere Aufmerksamkeit. Sie erfüllen von Kinderprogramm über Sport und Doku bis Film und Serie so gut wie jedes Bedürfnis.

Unkenrufe mit dem Abgesang aufs lineare Fernsehen sind trotzdem unnötig: Die größten Nutzerzahlen haben immer noch die klassischen Sender. Vor allem bei Information und Liveprogrammen haben sie die Nase vorn – und das wird mutmaßlich noch eine ganze Weile so bleiben.

 

Für immer und ewig? Das ist den Zuschauer:innen heute zu eng. (Foto: Adobe Stock)

 

  • „Bis dass der Tod uns scheidet“ ist passé

Wie im echten Leben werden auch hier die Bindungen „für immer“ weniger werden – und Fremdgehen ist ausdrücklich erwünscht! Bisher hielten trotz der meist monatlichen Kündbarkeit der Dienste viele Nutzer:innen ihrem Hauptanbieter die Treue. Je nach Größe des Portemonnaies waren Netflix und oder Amazon gesetzt. Aber mit den zusätzlichen Anbietern kam die Versuchung.

Ewige Treue? Vorbei.

Der Trend zur Flatterhaftigkeit wird sich verstärken. Zuschauer:innen werden ggf ihren Lieblingsdienst behalten – und buchen den Rest on Demand ab und zu, zu und ab. Damit werden vor allem Angebote, die nicht mit massenhaft Inhalten klotzen, zu Gelegenheits-Abos: Immer dann, wenn sie ein ersehntes neues Format oder zwei, drei gute Neuheiten im Programm haben, kommen die Kund:innen für eine begrenzte Zeit zurück. Und flattern dann weiter.

 

Gemeinsam stark – für Einzelkämpfer wird es sehr hart. (Foto: Adobe Stock)

 

  • Allein wird es schwer: Partner gesucht!

Diese Flatterhaftigkeit bedeutet Chancen für neue Dienste. Aber auch das Ende des Abo-Booms, wie wir ihn bisher kannten. Rund 150 Millionen gekündigte Accounts weltweit erwarten die Experten von Deloitte. Zwar werden noch immer Abonnent:innen dazukommen, aber der Markt ist einigermaßen satt und tritt in die Phase der Konzentration ein, sowohl auf Anbieter- als auch auf Produktionsseite.

Einzelkämpfer werden es hier schwer haben, selbst die größeren. Wer kluge Partnerschaften schließt, verbessert seine Position erheblich. Und das bezieht nicht nur den Kontakt zu Wettbewerbern ein, sondern auch vertikale Kooperationen. Produktionshäuser und Abspielplattformen, die ihr Vorgehen abstimmen, Vermarktungsdienstleister und Aggegatoren, die den direkten Weg zu den Nutzer:innen weisen, Koproduktionen über Sender- und Ländergrenzen hinweg, crossmediale und internationale Verbindungen, die Vielfalt und Effizienz gleichermaßen erlauben: Grenzen setzt hier nur die Vorstellungskraft der Akteur:innen.

 

  • Neue Chancen für Werbung

Für Werbungtreibende war der Streaming-Boom nicht nur gut. Denn er bedeutete noch mehr Fragmentierung, Reichweitenverluste der gewohnten Werbeplattformen, geschlossene Systeme wie Netflix oder Disney+, die keine Werbekunden reinlassen.

Nun gibt es: Entwarnung. Damit ist es weitgehend vorbei. Denn die Nutzerzahlen werbefinanzierter Angebote (AVOD) steigen.

Weil sowohl die Anzahl als auch die Qualität der AVoDs im Vergleich zum Jahreswechsel 202/21 zugenommen hat. Gerade angesichts der aufkommenden Flatterhaftigkeit (siehe Punkt 3) ist es verlockend, dass es gratis verfügbaren Top-Content gibt.

Premium-Anbieter wie Roku, Tubi, Pluto TV nutzen in den USA heute schon mehr als die Hälfte der Smart-TV-Zuschauer:innen mindestens einmal wöchentlich.
So ist die logische Konsequenz: …

 

Werbefinanzierte Angebote erobern selbst den Big Screen. (Foto: Adobe Stock)

 

  • Programmmacher und Fernsehsender entdecken den Vorteil von AVoD

Klaro! Denn die Akzeptanz für Werbung innerhalb von Streamingangeboten nimmt parallel zur Anzahl der werbefinanzierten Qualitäts-Streamer zu. Und das wiederum ist – trotz der zunehmenden Konkurrenz – eine Stabilisierungschance für klassische Fernsehsender, sowohl der öffentlich-rechtlichen wie auch der privaten.

Letztere sind ja schon in beiden Welten unterwegs; so bündeln die Plattformen der Mediengruppe RTL, RTL+, und ProSiebenSat.1, Joyn (plus), die Inhalte der Senderfamilien – mal gratis und dafür mit Werbung, mal gegen Gebühr und werbefrei, dafür mit exklusiven Zusatzinhalten.

Und nun signalisieren auch die Öffentlich-Rechtlichen, dass Werbung in den Mediatheken gar keine schlechte Idee wäre. Die Mediatheken von ARD und ZDF gehören tatsächlich zu meistgenutzten Videotheken in Deutschland. Und einer ARD-Studie zufolge wären 59 Prozent des Publikums mit Werbung hier einverstanden.

Bis es so weit ist, wird es aber dauern: Zwar sind die meisten Mediaagenturen sehr dafür, weil sie dringend digitale Qualitätsumfelder brauchen. Doch der privaten Konkurrenz der Sender wie auch online dürfte das nicht gefallen – und ohnehin wäre dafür eine Gesetzesänderung erforderlich.

 

Vor allem hochwertige Eigenproduktionen wie „Babylon Berlin“ sind gefragt.
(Foto: ARD Degeto/WDR/X Filme Creativ Pool/Sky/Beta Film 2019 / Frederic Batier/artwork dinjank)

 

  • Qualität, Qualität, Qualität

Partnerschaften, Finanzierungsmodelle, technische Innovationen: Das alles hilft nichts, wenn die Qualität nicht stimmt. Ja, es ist eine Binsenweisheit, und doch wird sie gern mal vergessen: Mehr denn je kommt es darauf an, den Zuschauer:innen das zu servieren, was ihnen schmeckt.

Mit hochwertigen Eigenproduktionen, vor allem seriell, können Streamer und Programmacher sich vom Wettbewerb abheben und Markenvertrauen aufbauen. Aktuell feiert Netflix sensationelle Abrufwerte mit Staffel 5 der spanischen Produktion „Haus des Geldes“; Amazon zieht nach mit dem Fantasy-Epos „Das Rad der Zeit“. Und der Pay-TV-Anbieter Sky macht zusammen mit der ARD Degeto mit „Babylon Berlin“ schon seit 2017 vor, dass auch deutsche Produktionen ein enorm hohes Produktionsniveau erreichen können.

Wenn es den Bewegtbild-Anbietern von TV bis Streaming gelingt, weiter wirklich gutes Programm zu machen, dann gilt noch in den kommenden Jahrzehnten Nina Hagens „Ist alles so schön bunt hier! Ich glotz TV“ (1978).

 

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