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So viel KI steckt im Streaming

Geschrieben von Petra Schwegler | 05. Januar 2021

Jedem seine Startseite: So individuell präsentieren sich Streaming-Anbieter. Was für Nutzer*innen leicht und selbstverständlich wirkt, basiert auf immensen Datenmengen. Was wir und andere an digitalen Spuren auf der jeweiligen Bewegtbild-Plattform hinterlassen, bereitet Künstliche Intelligenz für unser zukünftiges Streaming-Erlebnis auf. 

 Netflix hat die Nase vorn beim Streaming-Publikum. Zuletzt zementierte der „Digitalisierungsbericht Video“ der Landesmedienanstalten, präsentiert im Rahmen der MEDIENTAGE MÜNCHEN digital, die Vorherrschaft des Anbieters auch auf dem deutschen Markt. Fast jeder Dritte unter den regelmäßigen Streaming-Fans (32,2 Prozent) nutzt demnach in Deutschland inzwischen Netflix, bei Amazon Prime Video ist es rund jeder Vierte (25,6 Prozent). Damit hat Netflix während der Corona-Phase die Dominanz im hiesigen Markt weiter ausgebaut; 2019 lagen die beiden US-Dienste laut „Digitalisierungsbericht Video“ noch etwa gleichauf. Bei den 14- bis 29-Jährigen ist der Hang zu Netflix besonders deutlich: In dieser jungen Zielgruppe nutzen satte 74,0 Prozent regelmäßig den Dienst, Amazons Verfolger erreicht „nur“ 45,2 Prozent.

Dass Netflix von Corona überproportional stark profitiert hat, liegt auch am System dahinter: an der KI. Der Streaming-Gigant gilt weltweit als Vorreiter beim maschinellen Lernen. Auf Basis von Algorithmen werden rund um die Uhr Inhalteempfehlungen an Nutzer*innen herausgegeben, die auf ihren Vorlieben basieren. So entstehen all die individualisierten Startseiten.

Auch wird bei Netflix ständig daran getüftelt, auf welche Art und Weise Empfehlungen angepasst werden müssen, um Abonnent*innen zu noch mehr Netflix-Konsum zu bringen. Von neuen Grafiken im Menü bis zu Trailern zwischen den Folgen einer Serie: Der Anbieter testet und testet und testet.

 

Welche Nutzungsdaten sammelt Netflix?

Im Grunde fußen die Vorschläge des Netflix-Algorithmus auf Sehgewohnheiten und dem Feedback der Nutzer*innen, also auf positiven oder negativen Bewertungen eines Bewegtbildinhalts. Hinzugefügt wird, was andere Abonnent*innen mit ähnlichen Sehgewohnheiten sonst noch schauen.

Wer bei Netflix streamt, wird automatisch einer „Taste Community“ zugeteilt. Mehrere Tausend dieser dynamischen Gruppen gibt es auf der Plattform, etikettiert nach bestimmten Serien oder Genres. Die Netflix-KI kreiert auf Basis dieser Communities Wiedergabelisten, die beispielsweise Fans von Mystery-Serien weitere Inhalte aus diesem Segment empfehlen oder bei Suchanfragen die passenden Inhalte aufscheinen lassen.

Des Weiteren schlägt sich im Datenpool nieder, wie viel von einer Serie oder einem Film abgerufen werden, zu welcher Tageszeit der Netflix-Account am stärksten beansprucht oder auch welcher visuelle Stil bevorzugt wird. 

 

So läuft das mit den Empfehlungs-Maschinen

Viel Futter und immense Berge an Meta-Daten für die „Recommendation Engines“, die Empfehlungs-Maschinen. Netflix zufolge werden 80 Prozent der Streaming-Inhalte auf der Plattform durch datenbasierte Empfehlungen entdeckt. Doch bleibt rund ein Fünftel übrig, das über die Suche nach Kategorien, Genres, Schauspieler oder Schlagworten hinausgeht.

Auch wenn extrem viel Künstliche Intelligenz (KI) im Streaming steckt, stoßen maschinell lernende Systeme an ihre Grenzen. Daher setzen Streaming-Anbieter zusätzlich altbekannte Methoden ein. So verwendet Netflix etwa regelmäßig aktualisierte Listen mit den zehn meistgesehenen Inhalten einer Region. Dabei können auch Originals den Zuschauer*innen nahegebracht werden, selbst wenn die Algorithmen keine Datenbasis für eine mögliche Empfehlung der aufwändigen regionalen Eigenproduktionen finden.

Netflix versichert immer wieder, stets den Service für Abonnent*innen verbessern zu wollen. Und so wird an den Inhaltsempfehlungen weiter gefeilt und unter anderem mit interaktiven Inhalten experimentiert. Das kostet: Mehr als 1,2 Milliarden US-Dollar soll Netflix im Jahr 2018 in Technologie und Entwicklung investiert haben. Zum Team zählen Biostatistiker*innen Neurowissenschaftler*innen, Physiker*innen oder auch Wirtschaftsexpert*innen. Sie sollen das Empfehlungsmanagement und die User Experience der Besucher*innen auf der Plattform verbessern.

Nichts wird ausgespart, ob Bedienelemente oder Videos – alles wird hinterfragt, wenn es darum geht, Nutzer*innen zielgerichtet zu Netflix-Content zu lotsen. Künftig sollen auch Fragen wie jene nach Charaktereigenschaften bestimmter Figuren in Filmen oder Serien und ihr Einfluss auf das Nutzungsverhalten geklärt werden. Aus dem Musik-Streaming kommt des Weiteren der Ansatz, User*innen mit der Vorauswahl von Stücken mit Hilfe von KI gezielt Inhalte nach Stimmung zukommen zu lassen.

 

Der Faktor Mensch

Das Streaming-verwöhnte Publikum und dessen Verhalten verändern sich laufend, das System muss ständig angepasst werden. Eine neue Studie der Carnegie Mellon University besagt, dass Binge Watching, also das Ansehen einer Vielzahl von Serien-Episoden am Stück, sowohl dem Genuss der Zuschauer*innen als auch den Anbietern wie Netflix schaden kann. Studienleiter Jeff Galak und sein Team haben auf Basis früherer Studien analysiert, wie sich der Veröffentlichungs-Zeitplan von Streaming-Diensten psychologisch auf das Publikum auswirkt.

Heraus kam: Der Genuss einer eigentlich positiven Erfahrung nimmt durch häufige Wiederholungen zunehmend ab. Ein Effekt, der als „hedonischer Verfall“ bezeichnet wird. Die Forscher empfehlen nun, Episoden einer Serienstaffel nicht wie Netflix am Stück zu veröffentlichen, sondern mit zeitlichen Abständen, wie beispielsweise Disney+ bei der Erfolgsproduktion „The Mandalorian".

Apropos Disney: Dort stehen Joe Inzerillo, CTO der Streaming-Services, unterschiedliche Angebote als Datenquellen zur Verfügung. Mit dem Sportangebot ESPN Plus, mit der Universal-Plattform Hulu und der Entertainment-Marke Disney+ können auf Basis von Daten und KI verschiedene Aussagen darüber getroffen werden, in welche neuen Inhalte und Formate investiert werden soll.

Anders als Netflix und Disney+ plant der US-Konzern WarnerMedia beim geplanten Launch von HBO Max mit der menschlichen Kuratierung, um Abonnent*innen von sich zu überzeugen. So wirken Geschichtenerzähler*innen im firmeneigenen Inkubator WarnerMedia Innovation Lab in New York bei der Entwicklung von Technologien mit. Geplant ist, das Kuratieren durch erfahrene Inhalteproduzent*innen mit KI-Fähigkeiten zu kombinieren.

Vielleicht gelingt es so, die Schwachstellen datenbasierter Empfehlungen zu überbrücken: Geschmack oder Stimmung können Menschen nachempfinden, die maschinellen Lernsysteme können dies (noch) nicht.

 

Dieser Beitrag ist Teil einer fünfteiligen Reihe rund um das Thema Streaming im Blog der Medientage München. In den vergangenen Wochen wurden die steigende Nachfrage nach Bewegtbild aus dem Netz thematisiert, neue Anbieter sowie die Kehrseiten des Trends. Kommende Woche ende die Reihe mit einem Ausblick auf die weiteren Entwicklungen im Markt.

 

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