Der Erfolg von Streaming und das steigende Angebot an Eigenproduktionen ist eine Chance, die Sichtbarkeit von Frauen und Angehörigen von Minderheiten zu erhöhen. Immerhin lebt das Fernsehen on Demand von der Vielfalt der Nischen, vergleichbar etwa mit Social Media. Aber: Ist das moderne Serienangebot tatsächlich die neue Heimat für schillernde Figuren jenseits des Mainstream?
Die Universität Rostock hat sich Streaming-Produktionen angeschaut, mit Blick darauf, wie vielfältig sie hinsichtlich der Geschlechterrollen und der ethnisch-kulturellen Vielfalt sind. Die Ergebnisse der Auswertung von "Geschlechterdarstellungen und Diversität in Streaming- und SVOD-Angeboten" sind diesbezüglich ernüchternd.
Beginnen wir mit einem Lichtblick der Erhebung: Streaming-Serien zeigen eine größere Vielfalt an sexuellen Lebensentwürfen als das klassische Fernsehprogramm. Unter den Figuren, bei denen die sexuelle Orientierung erkennbar ist, sind immerhin 9 Prozent lesbisch, schwul, bisexuell oder queer (LSBQ). Das liegt leicht über dem Bevölkerungsanteil.
Das ist das positive Ergebnis der Studie "Geschlechterdarstellungen und Diversität in Streaming- und SVOD-Angeboten", die die Universität Rostock (Institut für Medienforschung) unter der Leitung von Prof. Dr. Elizabeth Prommer durchgeführt hat und am 22. Oktober vorstellt. Förderer der Untersuchung sind das ZDF, die Film- und Medienstiftung NRW und die MaLisa Stiftung. Bereits 2017 hatten die Partner gemeinsam ermittelt, wie es um Geschlechterdarstellungen in Film und Fernsehen steht. Allerdings lässt sich feststellen, dass weder die drei seither verstrichenen Jahre noch der aufgeschlossene Streaming-Markt einen nennenswerten Beitrag hierzu geleistet haben.
"Es hat uns überrascht, dass Streaming zwar hinsichtlich sexueller Orientierung und verschiedener ethnisch-kultureller Hintergründe diverser ist als das deutsche Fernsehprogramm – aber nicht, was die Darstellung von Frauen angeht. Die traditionelle, stereotype Darstellung von Frauen zieht sich auch hier durch", sagt Karin Heisecke, die Leiterin der MaLisa Stiftung. Die Sozialwissenschaftlerin ist Expertin für Geschlechterfragen und internationale Politik.
So ist beispielsweise die Besetzung von Hauptrollen nach Alter und Geschlecht praktisch gleich in den Erhebungen von 2017 und 2020: Deutsche Produktionen handeln bis zu einem Alter von Anfang 30 etwa ausgewogen von Frauen und Männern, danach liegt das Geschlechterverhältnis noch bei 1 zu 2 – für jede Frau ab 50 Jahren sehen wir drei Männer dieser Altersgruppe. Und: Andere Geschlechtsidentitäten kommen praktisch nicht vor.
Und diese haben ihren Platz, nicht mehr zwingend am Herd, aber im romantischen Fach und der Komödie. Bei den Produktionen weltweit ist der Anteil von Männern und Frauen hier beinah ausgeglichen und auch in Deutschland ist der Frauenanteil in der Comedy noch am höchsten (mit 44,4 Prozent) – für tragende Rollen in Thrillern, Dramen oder Actionfilmen werden doppelt so oft Männer wie Frauen besetzt.
Dazu passen die dargestellten Berufe: Überproportional oft sind die weiblichen Figuren in Verkauf und Service, Gesundheitswesen, Pflege und Bildung und in sozialer Arbeit tätig. Politik, mathematisch-naturwissenschaftliche und technische Berufe sowie Sicherheit und auf der Gegenseite organisierte Kriminalität sind in Streaming-Serien Männersache.
Darüber hinaus sind die dargestellten Frauen meist sehr schlank, sehr jung und seltener homosexuell. Der Anspruch, auch einmal alternative Lebensentwürfe insbesondere von Frauen zu thematisieren, scheint selbst im Nischenmarkt Streaming nicht allzu hoch zu sein.
Ganz düster sieht es für Menschen aus, die optisch nicht dem Bild der Mehrheitsbevölkerung entsprechen: Die Sichtbarkeit von Hauptakteuren mit schwarzer und brauner Hautfarbe oder asiatischer Herkunft geht in Deutschland gegen null. 89 Prozent der Protagonist*innen in Eigenproduktionen sind weiß – die übrigen 11 Prozent ordnet die Analyse der Uni Rostock dem Nahen Osten zu.
Zu den möglichen Ursachen für mangelnde Vielfalt gehören die Macher: Die Uni Rostock hat einen Blick auf die Geschlechterverteilung der Kreativteams geworfen, die hinter den Eigen- und Auftragsproduktionen stecken. Und wer schon einen weltweiten Frauenanteil von jeweils gut 20 Prozent bei Produktion und Regie, knapp 25 Prozent Drehbuchautorinnen und 3,5 Prozent Kamerafrauen für bestürzend niedrig hält (gemischte Teams aus Frauen und Männern finden sich vor allem bei Produktion mit rund 22 und bei Regie mit knapp 15 Prozent), der sollte vielleicht hier nicht mehr weiterlesen. Denn: Die deutschen Streaming-Serien, die sich die Studienautorinnen angesehen haben, waren fest in Männerhand (siehe Grafik). Drehbücher von Frauen bzw. von Frauen wenigstens mitgeschrieben: 10,7 Prozent. (Ko-)Produzentinnen: 38,5 Prozent.
Karin Heisecke: "Männer gehen von ihrer Realität aus und neigen dann wohl auch eher dazu, Geschichten von Männern zu erzählen." Wenn wir uns bezüglich der Vorbilder und auch Vorurteile, mit denen wir alle aufgewachsen sind, nicht bewusst hinterfragen, können diese sich, oft unbewusst, in kreativen Entscheidungen niederschlagen, erläutert die Wissenschaftlerin.
Dabei zeige sich, sagt Heisecke weiter, dass diversere Programme beim Publikum ankommen und Abonnent*innen anziehen. Die Ursache für die mangelnde Sichtbarkeit von Frauen und Minderheiten kann also nicht allein der wirtschaftliche Erfolg sein.
Die Folge: Streaming ebenso wie Film und Fernsehen bilden nicht die Realität ab, in der gut die Hälfte der Menschen weiblich sind. "Das beschränkt die Sicht des Publikums darauf, wie Frauen sind, was sie leisten und welche Rollen sie einnehmen können", sagt Karin Heisecke. "Das behindert den gesellschaftlichen Fortschritt."
Andere Länder sind hier schon weiter. Sender und Filmförderanstalten beispielsweise in Großbritannien haben sich Zielsetzungen für Diversity gegeben, berichtet die Sozialwissenschaftlerin. Ebenso die Senderfamilie ViacomCBS, die mittlerweile international nach dem Gebot "No Diversity, No Commission" produziert, vor und hinter der Kamera. "Auch weil sie wissen, wie wichtig das ist, um ein großes Publikum zu erreichen", sagt Heisecke, "und weil sie den Anspruch haben, die Gesellschaft, die ja ihr Publikum ist, abzubilden".
Ein Anspruch, den die deutsche Produktionslandschaft bislang nicht erfüllt. Ein Blick ins Ausland zeigt: Es gäbe Handlungsoptionen, die auch dem deutschen Produktionsmarkt zur Verfügung stünden.
Es gibt auch durchaus schon Ansätze dazu bei Sendern oder Filmförderern in Deutschland. So hat beispielsweise die Filmförderung Hamburg Schleswig-Holstein im Sommer Diversity-Checklisten eingeführt – auf die Ergebnisse und Auswirkungen, die diese Richtlinien haben werden, darf man gespannt sein in der Branche.
Die Studie "Geschlechterdarstellungen und Diversität in Streaming- und SVOD-Angeboten" hat die fiktionalen seriellen Auftragsproduktionen untersucht, die von auf dem deutschen Markt tätigen Streaming- und Subscription-Video-on-Demand-Plattformen angeboten werden. Betrachtet wurden dabei sowohl die internationalen als auch die deutschen Eigenproduktionen. Die wissenschaftliche Leitung lag bei Prof. Dr. Elizabeth Prommer, Institut für Medienforschung der Universität Rostock; gefördert wurde die Untersuchung durch die Film- und Medienstiftung NRW, das ZDF und die MaLisa Stiftung.
Sowohl Streaming als auch Diversity gehören zu den Themenfeldern, denen sich die MEDIENTAGE MÜNCHEN digital vom 24. bis 30. Oktober 2020 widmen.
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