Vielen Marketingverantwortlichen haben Daten in den vergangenen Jahren als Allheilmittel bei einer effizienteren Kunden:innenansprache gegolten. Doch mehr und mehr wird „All about data“ hinterfragt – und nicht nur wegen der inzwischen begrenzten Möglichkeit, Userdaten im Netz einzusammeln. Ernste Fragen über die Zukunft des Marketings haben sich verschiedene Expert:innen im Rahmen der MEDIENTAGE MÜNCHEN 2021 gestellt.
„Das Marketing steckt in einer umfassenden Sinnkrise, die das Ergebnis einer Komplexitätsexplosion unserer Branche ist: sowohl technologisch als auch sozio-kulturell auf Konsumentenseite“, erklärte Holger Thalheimer, CEO der Mediaagentur PHD Germany, bei einer Diskussion über die Zukunft des Marketings während der #MTM21.
Viele Werbungtreibende würden zunehmend in Kurzfrist-Strategien denken. Im Recruiting würden meist Leute eingestellt, die man aktuell brauche, ohne aber die sich drastisch ändernden Kompetenzanforderungen im Blick zu behalten, monierte der Mediakenner. Weiter sei auf Kunden-Agentur-Ebene die Taktzahl an Pitches sehr hoch, während intelligente Strategien keine große Rolle spielten. Auf Kampagnenebene dominiere das Motto „All about data“. „Dabei sagt die Wirkungsforschung, dass Kreativität für Wachstum meist unterschätzt und dadurch vernachlässigt wird“, so Thalheimer.
Und was muss das Marketing tun, um die Menschen in Zeiten der weiteren Fragmentierung von Mediennutzung zu erreichen?
Auch Christof Baron, Mediastratege und Inhaber der Agentur Media for Excellence, sah die Fokussierung auf Daten bei der Medientage-Session kritisch. Er sei zwar immer noch Verfechter von datenbasiertem Marketing, allerdings „haben wir es in der Vergangenheit verpasst, aus Daten Data-Storytelling zu machen und ein zu großes Augenmerk auf Dashboards gelegt“.
Ines Imdahl, Geschäftsführerin des Marktforschungsinstituts Rheingold Salon, bezeichnete sich ebenfalls als Fan von Daten, allerdings nur von „sinnvollen Daten“. Denn: „Das große Heilsversprechen von Big Data und KI hat sich nicht erfüllt. Vielmehr sind die Konsument:innen von Online-Werbung extrem genervt.“ Aktuell sei Online-Werbung zu laut, zu aufdringlich, zu egozentrisch und zu rücksichtslos.
Eigentlich müssten wir den Onlinern die Werbung wegnehmen. Sie machen dieselben Fehler, die einst von den klassischen Medien gemacht wurden.
Ines Imdahl, rheingold salon
Es herrsche zu viel „Produktporno“ und zu wenig Sinn. Auf die Bedürfnisse der Menschen werde zu wenig eingegangen, so die Forscherin.
„Im Kern geht es darum, das nach außen zu tragen, für was wir als Unternehmen glaubwürdig stehen“, empfahl Susan Schramm, Vorstand Marketing & Chief Marketing Officer der Fastfood-Kette McDonald’s Deutschland, die das Thema schon seit geraumer Zeit besetzt. Wichtig seien Transparenz, Ehrlichkeit, Authentizität und Glaubwürdigkeit. Von Krise wollte Schramm nicht sprechen, „sondern wir befinden uns in einem Riesenprozess des Wandels, in dem wir jeden Tag dazulernen. Ich würde von Herausforderung sprechen“.
Baron ergänzte: „Nicht das Marketing ist in der Midlife-Crisis, sondern die Gesellschaft. Wir sind als Gesellschaft mit der Dynamik der Entwicklungen und Kanäle überfordert.“ Aus dieser Dynamik folgerte Ines Imdahl auch eine mögliche Lösung: „Wir wissen aus der Marktforschung, dass die Menschen nach Sinn und Lösungen suchen. Werbung sollte versuchen, die Menschen abzuholen und ihre Bedürfnisse zu befriedigen.“
Apropos Online-Werbung: Wie kann ein Werbekunde verhindern, dass seine Werbebotschaften in unseriösen oder radikalen Umfeldern erscheinen? Das Phänomen Ad Fraud, also im weitesten Sinne Anzeigenmissbrauch durch betrügerische Darstellung von Online-Werbeimpressionen oder betrügerische Ausspielung von Werbung, um Einnahmen zu erzielen, bedroht zunehmend den Werbemarkt.
Michael M. Maurantonio geht solchen Fällen auf die Spur und bezeichnet sich selbst als Ad Fraud Investigator. Er erklärte bei einer Diskussion im Rahmen der Medientage 2021, in welchem Ausmaß digitale Werbung auf Internetseiten mit rassistischen, homophoben oder xenophoben Inhalten ausgespielt wird.
Nach einer Analyse der Initiative „Stop.Funding.Hate.Now!“ würden jährlich Werbebudgets in Höhe von rund 100 Millionen Euro in äußerst fragwürdige Foren und Plattformen fließen, darunter die von vielen renommierten Markenartiklern.
Als Grund für diese Besorgnis erregende Entwicklung gab Maurantonio die zunehmende technologische Komplexität der digitalen Werbeaussteuerung an. Die Automatisierung habe dazu geführt, dass die Verantwortung der Werbeplanung und -buchung vom Menschen auf Maschinen verlagert worden sei. Die dahinter liegenden Algorithmen aber seien meist auf eine Optimierung der Margen ausgerichtet – mit fatalen Folgen. „Das blinde Vertrauen in die programmatische Werbetechnologie nährt Desinformation und Diskriminierung“, warnte Maurantonio.
Der Geschäftsführer der Mediaplus Gruppe, Dr. Andrea Malgara, wies in der anschließenden Diskussion darauf hin, dass Brand Safety für Marken dennoch gewährleistet werden könnte. Es gäbe zahlreiche Verification-Tools, mit denen sich das Risiko, mit Display-Ads in unseriösen Umfeldern zu erscheinen, auf ein Minimum reduzieren lasse. Allerdings sei dies mit zusätzlichen Kosten verbunden, die sich Werbungtreibende gerne oft sparen würden. Häufig seien die Unternehmen nicht bereit, auch nur ein Prozent ihrer Werbebudgets in entsprechende Vorsorgemaßnahmen zu investieren, und würden stattdessen den einfacheren Weg wählen. „Im Werbemarkt gilt oft die Maxime: Das Günstigste ist das Beste“, sagte Malgara.
Daneben setzte sich der Geschäftsführer von Integral Ad Science, Oliver Hülse, dafür ein, diese Tools anzuwenden und sich im Übrigen auch selbst intensiver mit der Thematik auseinandersetzen. Unternehmen müssten also in Brand Safety investieren, aber auch wieder entsprechende Kompetenz im eigenen Haus aufbauen. Darauf wies Maurantonio in einem abschließenden Statement hin: „Bildet Euer Marketing aus und holt die Controlling-Funktion zurück ins Haus.“
Mit einer weiteren großen Herausforderung im Online-Marketing befasst sich Cara Hönkhaus. Die für Zentraleuropa und Großbritannien zuständige Marketing & Communications Managerin der Data Collaboration Platform InfoSum kritisierte im Rahmen der Medientage, viel zu wenige Unternehmen planten für die sogenannte Post Cookie-Ära, also die Zeit, in der es nicht mehr möglich sein werde, das Nutzungsverhalten von Menschen im Internet so einfach zu tracken, wie das heute noch der Fall ist.
Das sei spätestens Ende des Jahres 2023 der Fall, wenn auch der Browser Google Chrome dem Beispiel von Safari und Firefox folge und Cookies von Drittanbietern verhindere. Ohnehin sei das Tracking von Third Party Cookies datenschutzrechtlich problematisch, urteilte Hönkhaus. Denn die Re-Identifikation von Seiten-Besucher:innen über eine Ziffernfolge gelte als personenbezogenes Merkmal, was ein Einverständnis erfordere. Third Party Cookies werden von Werbungtreibenden genutzt, um über Werbeschaltungen auf fremden Websites Nutzungsinformationen zu sammeln.
Künftig komme es vor allem auf First Party Cookies an, also Daten aus einer direkten Kund:innenbeziehung. Gerade in diesem Bereich seien aber die großen Anbieter wie Google, Amazon oder Facebook im Vorteil, da sich die Nutzer:innen auf diesen Plattformen direkt mit ihren Daten einloggen. Als mögliche Ausweichstrategien nannte Cara Hönkhaus gemeinsame Log-in-Lösungen, ein umfeldbezogenes Targeting sowie die Zusammenarbeit mit Data Clean Rooms. Diese helfen bei der Überführung isolierter First Party Cookies zu übergreifenden Lösungen. „Google hat die Frist für das Aus der Third Party Cookies verlängert. Diese Zeit sollten wir nutzen“, sagte Hönkhaus.
Generell wurde bei den Medientagen deutlich: Google, Apple, Facebook oder auch Amazon – die globalen digitalen Plattformen geraten immer stärker ins Visier der Wettbewerbshüter. Dies ist maßgeblich auf deren enorme Marktmacht zurückzuführen – und auch auf ihre Bedeutung im Werbemarkt: In den USA addieren sich die Anteile von Google, Amazon, Facebook und Apple, für die das Akronym GAFA gebildet wurde, auf 50 Prozent des Werbemarktes und 84 Prozent des Online-Werbemarktes.
Aktuell arbeiten die Plattformen an eigenen Ökosystemen für den Werbemarkt: Google mit dem Sandbox-Projekt und Apple mit App Tracking Transparency (ATT). Beide Unternehmen erklärten, dass sie ein privates Netz aufbauen und den Datenschutz stärken wollen. Verschiedene Marktteilnehmer wie etwa die Verbände der Kommunikationsbranche in Deutschland sehen das anders und haben deshalb beim Bundeskartellamt Beschwerden gegen eine mögliche Monopolisierung der Daten eingereicht.
Sie bekommen zunehmend Unterstützung durch die deutsche oder europäische Politik. Beispielsweise wurde Google in Frankreich bereits zu einer Strafe in Höhe von 220 Millionen Euro verurteilt, in den USA haben die Staatsanwaltschaften mehrerer Bundesstaaten Klage gegen Google eingereicht und in Großbritannien wird das Sandbox-Projekt bereits vorsorglich auf mögliche Verletzungen des Wettbewerbsrechtes geprüft. In Deutschland gibt es derzeit neun juristische Verfahren gegen die vier Tech-Unternehmen, sechs davon wurden allein in diesem Jahr eingeleitet. Google selbst übt sich zunächst in Selbstverpflichtung ...
Andreas Mundt, seit zwölf Jahren Präsident des Bundeskartellamts, erklärte, dass hierfür die Novelle des Wettbewerbsrechts ein wichtiger Baustein war. „Dadurch wurde es uns möglich, bereits prophylaktisch bestimmte Geschäftsmodelle zu untersuchen und gewisse Verhaltensweisen zu untersagen, beispielsweise schauen wir gerade sehr genau bei Google News Showcase inwieweit hier die Ausgewogenheit der Rechte und Pflichten der Inhalteanbieter oder eine mögliche Verdrängung von Konkurrenz gegeben ist. Gerade nationale Wettbewerbsbehörden können im Moment einiges im Digitalmarkt ausrichten“, erklärte der Kartellamts-Chef bei einer Diskussionsrunde der #MTM21.
Als Beispiel nannte er das deutsche Verfahren gegen Facebook, das inzwischen vor dem europäischen Gerichtshof verhandelt wird. „Wenn wir in der Lage sind, das ungebremste Sammeln und uferlose Zusammenführen von Daten zu verhindern, dann ist dies eine Möglichkeit, die Dominanz dieser Unternehmen zu brechen“, sagte Andreas Mundt.
Von einer Zerschlagung der Konzerne hielt Mundt indes wenig: „Dies ist ein sehr massiver Eingriff ins Eigentum, zudem dauern die Verfahren enorm lange – in USA erfahrungsgemäß zwischen 64 und 84 Monaten.“ Andererseits würden den Wettbewerbshütern einige Fusionen, die in der Vergangenheit „durchgewunken“ wurden, heute sehr zu schaffen machen, beispielsweise die Übernahme von WhatsApp und Instagram durch Facebook sowie die Übernahme von Doubleclick durch Google.
Die daraus resultierenden Folgen seien aus heutiger Perspektive nicht über Verfahren zu lösen, sondern eher per Gesetz. Hierzu gebe es in den USA konkrete Überlegungen, die die deutsche Kartellbehörde eng begleiten würde. „Wir dürfen nicht übersehen, dass diese Unternehmen durch die Netzwerkeffekte aus sich selbst heraus immer größer werden. Deshalb brauchen wir eine strenge Regulierung“, forderte Mundt.
Die Vertreter des Medien- und Werbemarktes zeigen sich angesichts der Projekte wie Sandbox von Google oder ATT von Apple alarmiert. Dr. Christina Oelke (Foto oben), Senior Counsel Recht und Regulierung beim Verband VAUNET, sieht die privaten Medien in einer Sandwich-Situation. „Auf der einen Seite haben wir es mit den Datenmonopolen der großen Gatekeeper zu tun, die mit unserem Content Geld verdienen und an deren Wertschöpfungskette wir nicht beteiligt sind. Auf der anderen Seite stehen wir in der Wettbewerbssituation mit den gebührenfinanzierten Öffentlich-Rechtlichen. Daher sind Daten und Werbung existentiell sind für uns, weil wir darüber unseren Content refinanzieren.“
Klaus-Peter Schulz, Geschäftsführer der Organisation Mediaagenturen (OMG), ergänzte: „Wenn die Werbekunden ihre Kampagnendaten und die Vermarkter die Angebotsflächen ins Sandbox-System einstellen und diese dort verarbeitet werden, so wird die vertragliche Situation, wie wir sie heute zwischen Medien, Werbekunden und Agenturen haben, ebenso ausgehebelt wie die Preishoheit der Publisher sowie die Preisfindung zwischen Angebot und Nachfrage.“
Auch das Argument des Datenschutzes lässt Christina Oelke für Google nicht gelten: „In den letzten 20 Jahren wurde hier ein closed shop entwickelt. Sich nun auf Basis dieser Daten zum Datenschützer aufzuschwingen, kann man schon sehr kritisch sehen. Das wäre nun Aufgabe des Staates, hier eine Regulierung zu schaffen.“
"Wir sind abhängig von den großen Plattformen, und wir müssen jetzt unbedingt gegensteuern, sonst haben wir in fünf Jahren massive wirtschaftliche Herausforderungen zu bestehen,“ warnte die Vaunet-Justitiarin Oelke vor großen Gefahren. Und OMG-Sprecher Schulz befürchtet eine zunehmende Schieflage für den deutschen Werbemarkt. „Wir sehen heute für die GAFAs schon ein Wachstum im Werbemarkt von 15 Prozent, das liegt weit über dem, was die deutschen Publisher erzielen. Die Geschäftsmodelle werden extrem tangiert und die Werbeeinnahmen der deutschen Anbieter werden sich erheblich reduzieren.“
Die Zusammenfassungen vieler Sessions der 35. MEDIENTAGE MÜNCHEN sowie Bildmaterial stehen in der Mediathek der Medientage-Homepage und auch im Blog der Medientage bereit.
Die Medienthemen können auch gehört werden: im Podcast der Medientage München.