Wer heutzutage den TV-Bildschirm im Wohnzimmer anschaltet, ist nicht mehr nur aufs bloße Fernsehen konzentriert. Vielmehr eröffnet der „Big Screen“ den Weg ins Netz und in den Streaming-Kosmos. Es kann gesurft, geshoppt oder auch gespielt werden. Vorausgesetzt, das Gerät ist smart und mit dem Internet verbunden – was in mehr als der Hälfte der deutschen Haushalte inzwischen der Fall ist. Mit der zunehmenden Zahl an Quellen für den Bewegtbild-Konsum erhöht sich der Druck auf Werbungtreibende, dem über viele Jahrzehnte so treuen TV-Publikum in die neuen Welten zu folgen.
Der Empfang von Bewegtbild verlagert sich ins Netz. Die Werbebranche will mitziehen: Es gilt, die aufwändigen und kostspieligen Werbespots weiter an die Zuschauenden zu bringen. Dem trägt die AGF Videoforschung Rechnung. Die gemeinsame Forschungsinitiative der TV-Sender legt nach und nach bei erweiterter Grundgesamtheit und mit zusätzlichen Messfeldern Zeugnis ab über die neue Art des Bewegtbildkonsums – und über das Drumherum.
Mit dem „Drumherum“ hat sich das AGF Forum 2022 unter der Headline „Reichweitenforschung für die crossmediale Zukunft“ befasst. Im Kern geht es dabei um mehr Daten, um einer verzerrten Auswertung von Medialeistung als Folge des neuen Nutzungsverhaltens Herr zu werden.
In einem ersten Schritt will die AGF von Oktober an zusätzlich Sekundendaten für ein ausgewähltes Set an Sendern und Zielgruppen an Mediaagenturen liefern. Kerstin Niederauer-Kopf, Vorsitzende der Geschäftsführung der AGF Videoforschung, sieht in "Fight the Bias and combine Big Data with Smart Data" einen Lösungsweg.
Im nächsten Schritt wollen die Frankfurter Mitte 2023 "X-Reach" starten, einen von langer Hand vorbereiteten Messansatz. Er soll ganzheitlich Video, Fernsehen, Streaming und auch Display abbilden sowie Reichweiten miteinander vergleichbar machen. Seit 2021 wird am neuen Projekt gefeilt, bei dem die AGF den Ausbau der Messung auf Non-Video-Content testet. Guido Modenbach, Executive Vice President Research, Analytics & Consulting bei Seven.One Entertainment, hebt die „große Bedeutung für die Vermarktung und die Contentseite“ hervor.
Die Media-Seite pocht auf mehr Transparenz und Vergleichbarkeit. Klaus-Peter Schulz, Geschäftsführer Organisation der Mediaagenturen, hat im Rahmen des AGF-Termin seine Forderung wiederholt, „Mediennutzung so vollständig wie möglich abzubilden. Wir haben im Moment vier Milliarden Euro an TV-Spendings und zwei Milliarden Einnahmen durch Streaming. Letzteres wird über Leistungsdaten nicht ausreichend abgebildet. Es besteht also das dringende Erfordernis, Crossmedia so umfassend wie möglich abzubilden“, so der OMG-Chef.
Daneben soll das Modell des weltweiten Kundenverbandes WFA unterstützt werden, das 2020 unter Mitarbeit der großen Digital-Plattformen Google und Meta vorgestellt worden ist. Es hat einen global geltenden Messstandard für die Reichweite von Bewegtbild zum Ziel. Hierzulande macht sich vor allem die Organisation der Werbungtreibenden im Markenverband dafür stark. Norman Wagner, OWM-Vorstand und Leiter Konzern Media bei der Deutschen Telekom, nennt die Idee „einen Maschinenraum, wo man viele Arbeiten zentral lösen und dann lokal anpassen kann“.
Noch sind viele Hürden zu überwinden, doch die AGF-Spitze um Kerstin Niederauer-Kopf zeigt sich der WFA-Idee gegenüber aufgeschlossen. Unter bestimmten Bedingungen: "Ein Crossmedia-Ansatz ist nur gemeinsam zu schaffen und braucht viel Vertrauen. Er darf keine Blackbox sein, vielmehr müssen alle gleichberechtigt am Tisch sitzen.“ Die AGF habe viele Synergien mit dem globalen Ansatz und „auch die Panels als methodisches Fundament, die dafür benötigt werden“, wird sie in der Mitteilung zum AGF Forum zitiert.
Die AGF hat sich in den vergangenen Jahren mehrfach geöffnet, um die Bewegtbildwelt besser durchleuchten zu können. Ein Ergebnis ist der Convergence Monitor für TV und Streaming, den Kantar seit 2020 im Auftrag der Videoforschenden erhebt.
Jüngsten Ergebnissen zufolge sind deutschen Haushalten ihre Streaming-Dienste im Schnitt 22 Euro pro Monat wert. 15,6 Prozent derjenigen, die mindestens ein Abo haben, geben sogar über 30 Euro monatlich aus:
Für Netflix wird am meisten ausgegeben (Foto: AGF Videoforschung)
Insgesamt haben die Marktforscher im Zeitraum vom 31. März bis zum 15. Mai dieses Jahres rund 1500 persönliche Interviews geführt, um herauszufinden, wie Geräte, Medien- und Kommunikationsangebote sowie deren Inhalte genutzt werden.
Fest steht: Der Anteil derjenigen, die Filme, Serien und Dokus kostenpflichtig streamen, wächst erneut deutlich auf nunmehr 38,0 Prozent. Im Vorjahr waren es noch 33,9 Prozent. 76,0 Prozent der Befragten geben an, mindestens einmal pro Monat Bewegtbild online zu nutzen. Dabei bleibt die Mediatheken-Nutzung mit 29,9 Prozent bei den Nutzern auf einem konstanten Niveau (2021:29,9 Prozent), kostenlose Filme/Serien und Dokus kommen jetzt auf 25,9 Prozent (2021: 26,6 Prozent).
Und: Mittlerweile geben in der untersuchten Altersgruppe 60,9 Prozent an, im Haushalt über ein internetfähiges TV-Gerät zu verfügen (2021: 55,2 Prozent). In 95,0 Prozent der Fälle handelt es sich um ein Smart-TV-Gerät (2021: 89,7 Prozent). Daneben kann jeder dritte Haushalt inzwischen im hochauflösenden Standard 4K/8K/Ultra HD TV- und Streaming-Inhalte sehen (32,2 Prozent, 2021: 29,0 Prozent).
Interessant: Filme rangieren als Genre im linearen TV, in den Mediatheken der TV-Sender oder bei Streaming-Diensten wie Netflix an erster Stelle. „In den Niveaus zeigen sich jedoch deutliche Unterschiede“, verkündet die AGF: 62,9 Prozent geben an, im linearen TV am liebsten Filme zu sehen, die Mediatheken der Fernsehsender liegen mit 61,8 Prozent fast gleichauf. Bei Streaming-Diensten fällt diese Präferenz mit 83,4 Prozent noch klarer aus. Dort rangieren Serien auf Platz 2, mit 67,4 Prozent. Auch in Mediatheken und im TV sind Serien beliebt (42,7 Prozent vs. 38,2 Prozent).
„Allerdings platzieren sich im Fernsehen die Nachrichten noch vor Serien auf Rang 2, mit 58,9 Prozent. Nachrichten sind damit auch das prägende Alleinstellungsmerkmal im linearen TV, ebenso wie Shows, die in den Streaming-Diensten - noch - eine deutlich geringere Rolle spielen, wohingegen Reportagen/Dokus und Sport bereits jetzt Einzug in die Top5 der Streaming-Lieblinge gefunden haben“, so das Fazit zu den Genres.
Das Nebenher vergessen die Forschenden im Rahmen des Convergence Monitors nicht, denn der Second Screen ist fürs Publikum ein fester Bestandteil ihres Medienkonsums geworden. Rund 83,2 Prozent der 14- bis 69-Jährigen geben demnach an, mit dem Smartphone vor dem TV-Gerät zu sitzen und Instant Messaging und/oder soziale Netzwerke zu nutzen (2021: 82,0 Prozent). Dabei werde WhatsApp mit Abstand als wichtigstes Kommunikationsmedium genutzt. Bei TikTok stünden Videos im Vordergrund, weiß die AGF zur Parallelnutzung.
Die MEDIENTAGE MÜNCHEN 2022 finden vom 18. bis 20. Oktober vor Ort in München statt.
Dabei blicken wir im Rahmen des TV-Gipfels und diverser weiterer Sessions auf aktuelle und künftige Herausforderungen in der Bewegtbildbranche und zeigen neue Perspektiven auf. Daneben wird es Einblicke in die Entwicklung hin zur crossmedialen Videoreichweite geben geben. Hier geht es zum Ticketshop!
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