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„Es braucht Medien-kompetenz bis zum Abwinken“

Geschrieben von Bettina Pregel // BLM | 09. Mai 2023

Die Nacht wird zum Tag, der Schulbesuch fällt aus und die sozialen Kontakte finden nur noch virtuell statt: Prof. Dr. med. Rainer Thomasius setzt auf altersgerechte Mediennutzung und Medienkompetenz, wenn es um Prävention von Mediensucht geht. Bei Gaming und Social Media gab es 2022 rund 680.000 betroffene Kinder und Jugendliche.
Grund genug, den Suchtexperten am Rande der
BLM-Fachtagung „Fit, gesund und aufgeklärt durch Social Media? Der Einfluss digitaler Medien auf junge Nutzerinnen und Nutzer“ zu fragen, wie gegengesteuert werden kann.

 

Herr Prof. Thomasius: Sie haben auf der Fachtagung über das Thema „Digitale Balance statt exzessiver Mediennutzung“ gesprochen. Wo liegt denn die Grenze zwischen exzessiver Mediennutzung und Mediensucht?

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) unterscheidet zwischen riskanter Mediennutzung und pathologischer - also krankhafter - Mediennutzung. Die Kriterien für die pathologische Nutzung sind streng: Es handelt sich um ein Verhalten, das über zwölf Monate hinweg beim Kind oder dem Jugendlichen zu beobachten ist.

Kennzeichnend dafür sind: Kontrollverlust, zunehmende Priorisierung der Mediennutzung gegenüber anderen Lebensinhalten und eine Fortsetzung dieses Verhaltens trotz negativer Auswirkungen auf das familiäre, soziale und schulische Leben.

Davon abgegrenzt wird die riskante Nutzung. Sie ist genauso durch einen überhöhten Medienkonsum und Priorisierung geprägt. Aber das Zwölf-Monats-Kriterium greift hier nicht. In der Längsschnittstudie des Uniklinikums Hamburg-Eppendorf mit der DAK-Krankenkasse „Mediensucht 2020 – Gaming und Social Media in Zeiten von Corona“ haben wir eine sehr hohe Prävalenz von etwa 15 Prozent für die riskante Mediennutzung gefunden.

 

Der Studie zufolge ist der Medienkonsum während der Corona-Pandemie, vor allem beim Gaming und Social Media, enorm gestiegen. Wie sehen die Zahlen dazu konkret aus?

Im Sommer 2022 ist der Umfang der pathologischen Nutzung mehr als doppelt so hoch wie 2019, bevor Corona ausbrach. 2022 gibt es etwa 332.000 betroffene 10- bis 17-Jährige (6,3 Prozent), die beim Gaming pathologische Nutzungsmuster zeigen. Bei den Sozialen Medien sind es etwa 353.000 betroffene Kinder und Jugendliche (6,7 Prozent).

Damit liegen die Zahlen deutlich höher als bei Cannabis-Abhängigen.

Insofern hat sich über die Pandemie hinweg ein Medien-Suchtverhalten bei Kindern und Jugendlichen etabliert, dass wir bei Kindern und Jugendlichen bisher in Deutschland noch nicht gesehen haben.

 

 

Suchtprävention durch altersgerechte Mediennutzung

Warum ist der Konsum gerade bei Gaming und Social Media so gestiegen?

Es ging vor allem darum, soziale Kontakte mit Gleichaltrigen zu halten, Langeweile zu vertreiben und Informationen über die Corona-Pandemie zu beziehen. Ein Drittel der Befragten nannte ganz andere Motive angesichts der restriktiven Lebensbedingungen während der Pandemie: Sorgen und Stress abzubauen und der Realität entfliehen zu wollen.

Diese Strategie der Stressbewältigung über das Internet ist dann problematisch, wenn keine Alternativen in Realkontakten angeboten werden und die Eltern die problematischen Gebrauchsmuster nicht erkennen und begleiten.

 

Welche Muster sind das?

Meist bemühen sich betroffene Familien leider erst sehr spät um Hilfe. In unsere Suchtambulanz des Universitätsklinikums Eppendorf kommen die Eltern meist erst, wenn ihre Kinder im Durchschnitt schon 18 Monate in der Schule gefehlt haben.

Als klare Warnsignale gelten: die Verschiebung des Tag-Nacht-Rhythmus, die Vernachlässigung analoger Kontakte und Freizeitaktivitäten, die Vernachlässigung von Pflichtaufgaben und mangelnde Selbstreflexion.

 

Was können Eltern denn präventiv tun?

Wir raten Eltern immer, informiert zu sein über die Inhalte der Domains, die ihre Kinder nutzen. Wir raten ihnen auch, die Spielmotive ihres Nachwuchses zu ergründen und sich zu fragen: Was sucht mein Kind im Netz eigentlich, was es in realen Kontakten nicht finden kann?

Außerdem: Altersfreigaben von Spielen zu beachten, ist genauso wichtig wie Zeitgrenzen zu setzen und altersgerechte Zeitkontingente festzulegen. Das Beste wäre es, Alternativen in der Freizeit anzubieten, die der Stressentlastung dienen.

 

Nachholbedarf in Sachen Medienkompetenz

Und welche Rolle spielt die Peergroup mit Blick auf die Mediennutzung?

Eine ganz wichtige. Soziale Begegnungen finden heute immer häufiger über Soziale Medien statt, die Realkontakte gehen zurück. Wenn sich die Peergroup über digitale Medien trifft, wollen Heranwachsende dabei sein und gehen den Trend mit. Aber die Wahrscheinlichkeit eines Suchteinstiegs wird nicht über die Peergroup bestimmt, sondern über sehr personennahe Faktoren.

Dazu gehören: Ängste, Depressionen, Störungen der Emotionsregulierung, bei den Mädchen frühe Traumatisierungserfahrungen und bei Jungen das Aufmerksamkeitsdefizithyperaktivitäts­syndrom (ADHS). Diese Faktoren müssen mit den sozialen Faktoren, zum Beispiel Familie und Peergroup, zusammenkommen, bevor sich eine Abhängigkeit entwickelt. Resiliente Jugendliche können aus eigener Kraft gegensteuern.

 

Gegensteuern lässt sich auch, indem Medienuser mehr „digitale Balance“ finden. Wie funktioniert das?

Wenn ich das mal aus Therapeutensicht beschreiben darf, da ich kein Medienpädagoge bin: Restriktion – also das Wegnehmen digitaler Geräte – ist bei uns die Voraussetzung für eine stationäre Behandlung. Ambulant funktioniert das eher mit Zeitgrenzen.

Generell geht es also im ersten Schritt um eine Begrenzung der Mediennutzung. In einem zweiten Schritt müssen die Jugend­lichen an eine altersgerechte und angemessene Mediennutzung herangeführt werden (vgl. Tabelle). In einem dritten Schritt empfehlen wir, die Inhalte zu meiden, die besonders häufig genutzt wurden. Denn sie stellen psychologische Trigger dar, wieder in alte Nutzungsmuster zu verfallen.

 

Wie lautet Ihre Empfehlung, um gar nicht erst in problematische Nutzungs­muster zu verfallen?

Eigentlich braucht es Medienkompetenz bis zum Abwinken in Schule und Elternhaus, um eine kritische und altersgerechte Mediennutzung zu vermitteln.

Gaming, Social Media und Streaming-Dienste gehören zum digitalen Alltag von Kindern und Jugendlichen. Obwohl die Landesmedienanstalten oder die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung hier viele Aktionen und Informationsmaterial anbieten, besteht in diesem Punkt immer noch Nachholbedarf.

Weiterführende Materialien und Webseiten: www.klicksafe.de; www.mediensuchthilfe.info

 

Zur Person:

Prof. Dr. med. Rainer Thomasius ist der Ärztliche Leiter des Deutschen Zentrums für Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters (DZSKJ) im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE). Er ist Vorsitzender der Gemeinsamen Suchtkommission der kinder- und jugendpsychiatrischen Fachgesellschaft und Verbände (DGKJP, BAG KJPP, BKJPP) und Past-President der Deutschen Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie (DG-Sucht). Aktuell leitet er den vom G-BA Innovationsfonds geförderten Verbund „Res@t - Ressourcenstärkendes Adoleszenten- und Eltern-Training bei Medienbezogenen Störungen“.


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