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Wie das Social Web überholte Rollenklischees fördert

Geschrieben von Susanne Herrmann | 24. September 2020

In einer Zeit, in der Likes die wichtigste Währung für Anerkennung sind, gewinnt die perfekte Selbstinszenierung an Bedeutung. Der Blick auf die reichweitenstärksten Influencer*innen im Social Web zeigt, dass stereotype Darstellungen und Themen Rollenbilder prägen. Mit dem Einfluss dieser Vorbilder hat sich die Medienwissenschaftlerin Dr. Maya Götz in zahlreichen Studien auseinandergesetzt. Die Leiterin des Internationalen Zentralinstituts für das Jugend- und Bildungsfernsehen (IZI) beim Bayerischen Rundfunk spricht im Interview mit dem Medientage Blog über das Frauenbild in Social Media und die Dynamik des Marktes.

 

Frau Götz, Sie haben sich unter anderem damit auseinandergesetzt, wie sich erfolgreiche Influencerinnen auf Instagram inszenieren. Dabei spielt die optimierte äußere Erscheinung eine große Rolle. Wie sieht die perfekte Instagram-Frau also aus?

Sie ist ausgesprochen schlank, sehr jung, durchtrainiert und lebt in einer perfekten Welt, hat immer Markenklamotten an, ist optimal geschminkt und inszeniert sich immer in sehr typischen Posen.

Ist das bei jungen Männern auch zu beobachten?

Zunächst stehen sie auf beiden Beinen, lehnen sich an oder sitzen cool herum, stets standfest und stark. Frauen, gerade Influencerinnen, inszenieren sich so gut wie nie mit dem Gewicht auf beiden Beinen oder locker sitzend. Viele junge Männer nutzen aber auch sehr geschlechterstereotype Posen, wie der coole Macho oder der schöne überlegene Mann.

Man könnte doch annehmen, dass wir in Social Media eine große Vielfalt sehen, weil jeder alles publizieren kann auf Kanälen wie YouTube, Instagram und TikTok. Faktisch ist das offenbar nicht so, wenn man sich die reichweitenstärksten Influencer und ihre Kanäle anschaut und die diese Muster pflegen, von denen Sie sprechen. Woran liegt das?

Alles wäre möglich. Was wir aber gern vergessen, ist: Die Menschen, die regelmäßig posten, haben einen sehr anstrengenden Job. Das muss sich irgendwie finanzieren, und hier schlägt der Markt ungebremst zu. Der Markt ist ausgesprochen geschlechterkonservativ, das heißt, es werden Frauen gewählt, die in sehr stereotype bekannte Muster fallen und die sich möglichst nicht zu Themen wie Politik oder Zeitgeschehen oder in irgendeiner Weise kritisch äußern.

Das bedeutet, Frauen können sich in dieser Welt gut finanzieren mit Themen wie Make-up, Lifestyle, eventuell noch Reisen und Luxus, und mit allem, was Ernährung und Fitness angeht. Während Männern eine viel größere Vielfalt von Politik, Comedy über Gaming bis zu Sport und Musik zur Verfügung steht.

Man könnte den Eindruck gewinnen, dass wir schon mal weiter waren, was das Frauenbild angeht. Warum? Hat der Siegeszug der Social-Media-Plattformen seit 2010 zu einem Rückschritt geführt?

Ja. Das hat zu einem Rückschritt geführt, denn wenn nicht steuernd eingegriffen wird, agieren der Markt und insbesondere die Marketingabteilungen tendenziell sehr konservativ, gerade, wenn es um Geschlechterrollen geht. Da werden Frauen auf bestimmte Rollen verwiesen und wenn sie darüber hinausgehen, ziehen sich die Firmen aus der Zusammenarbeit zurück. Insofern haben hier die Marketingabteilungen die Macht, bestimmen zu können, wer sich als Influencer*in finanzieren darf und mit welchen Inhalten.

Was können, was müssen Medienverantwortliche und auch Werbekunden tun, um die Gleichberechtigung und Vielfalt zu stärken und diesen Stereotypen entgegenzuwirken?

Sich erst mal mit den eigenen Stereotypen auseinandersetzen, um zu sehen, wo die Bilder im Kopf vielleicht gar nicht mehr der Realität angemessen sind. Gerade bei jungen Zielgruppen ist viel Offenheit für nicht-binäre Geschlechterkonstruktionen da. Sie würden gerne mehr Menschen sehen, die sich jenseits von Geschlechterklischees inszenieren, und sind offen für queerere Themen und Identitätskonstruktionen. Aber wenn ihnen immer nur das eine angeboten wird, dann werden sie in entsprechenden Marketingttests immer wieder sagen: Ja, ich mag die Frau, die aussieht wie Barbie, mit langen blonden Haaren und super durchtrainierter Figur.

Hier ist mehr Mut gefragt, mehr Auseinandersetzung mit den eigenen Klischees, und man muss ganz klar auch sehen: Hier hat der Markt eine inhaltliche Verantwortung. Wenn Sie die Inhalte derart einschränken, nehmen Sie Frauen und ihre Stimme, ihre politische Perspektive, einfach massenhaft aus dem öffentlichen Diskurs heraus.

Gibt es positive Beispiele von Medien oder Marken, die schon versuchen, hier etwas zu tun?

Bei den Marken sehr wenige. Positive Beispiele finden Sie bei den Öffentlich-rechtlichen, etwa bei funk. Die sind den Weg gegangen, dass sie mit erfolgreichen Influencer*innen zusammenarbeiten und ihnen damit die Möglichkeit geben, sich jenseits von Werbung zu finanzieren und dann auch inhaltlich zu positionieren. Da kommen dann ganz interessante, bisher so in den Medien noch nicht gesehene Formen vor, wie die junge politisch engagierte Frau mit Hijab, die mit Witz die Dinge auf den Punkt bringt.

TikTok gewinnt an Bedeutung im Social Web, auch das haben Sie kürzlich untersucht. Verstärkt dieser Kanal die negativen Entwicklungen, über die wir gesprochen haben, oder mildert es sie ab?

Jedes Medium hat seine eigene Logik. Bei Instagram sind es die perfekten Welten, mit Filtern nachbearbeitet, wo der schöne Schein im Mittelpunkt steht.

TikTok funktioniert ganz anders. TikTok ist deutlich jünger, der Schwerpunkt liegt bei 14 und 15 Jahren, es ist zurzeit das jüngste Soziale Netzwerk, das fängt schon in der Grundschule an: Jedes dritte Kind in der 4. Klasse nutzt derzeit schon TikTok. In der Nutzungszeit gehört TikTok zu den großen Corona-Gewinnern.

Was ist anders auf TikTok?

Durch die ganz kurzen Videos bietet TikTok einen hohen Unterhaltungswert, gerade für die jüngere Zielgruppe. Der Trick liegt dabei, dass die Videos einen auf immer unterschiedliche Weise ansprechen. Es gibt Actionvideos, die nehmen die Nutzerinnen und Nutzer mit auf die halsbrecherische Mountainbike-Fahrt. Die Tänze einzelner Personen und die Lip-Snyc-Videos bieten den Zuschauern eine sehr intime Beziehung zu Mädchen und jungen Frauen an. Es ist erotisch aufgeladen, so als würden sie einen direkt antanzen. Und es geht bis hin zu Influencern, die lustige Dinge erzählen oder überraschende ästhetische Tricks zeigen.

Das heißt, wir haben hier den Effekt des Kaleidoskops, nicht mehr die perfekte Welt, aber auch hier finden Sie zunehmend professionell agierende Influencer*innen, ergänzt durch Werbung, und ab und zu mal normale Menschen mit unter 1000 Followern.

Auf TikTok sind die pädagogischen Problembereiche andere. Wir haben auch hier deutlich geschlechterstereotype Bilder, es sind hier aber anders als auf YouTube oder Instagram Mädchen und Frauen in der Überzahl. Die inszenieren sich dann oft erotisch aufgeladen und in einer intimen Beziehung zur Kamera. Diese Selbstsexualisierung fand auf Instagram zumindest in dieser deutlichen Form im Mainstream kaum statt. Das hat sich erst mit der öffentlichen Anerkennung von Shirin David  verändert und mittlerweile gibt es mehrere Mainstream-Influencerinnen, die sich auf Instagram sehr sexualisiert mit Bildern nahe der Pornographie inszenieren. Bei TikTok wird die Selbstsexualisierung zum Normalfall. 12-, 13-jährige Mädchen beschreiben in unseren Fallstudien, wie sie die Moves nachmachen und sich voller Begeisterung sexy inszenieren.

Wenn sie nicht tanzen können, filmen sie sich mit Lip-Sync und das ganz dicht vor der Kamera. Eigentlich würden sie viel lieber clevere Tricks machen und tolle Videos mit Gags am Ende drehen, das können sie aber nicht, und deswegen inszenieren sie sich erotisch-attraktiv. Wer nicht so tolle Choreografien wie Lisa & Lena machen kann, singt als sexy Girl vor der Kamera.

Also wenn ich das zusammenfasse: Durch TikTok wird die Situation nicht besser.

Genau. Aber, während die Inszenierung auf Instagram die postfeministische Maskerade ist – ich zeige mich auf Instagram als schöne Barbie in einer perfekten Welt, Barbie und ihr Dreamhouse  –, ist es jetzt: Ich bin so sexy. Das ist in Ordnung. Mädchen dürfen erotisch-attraktiv tanzen, sie dürfen ihren Körper genießen, das ist auch wichtig und sei ihnen gegönnt.

Gleichzeitig: Wir haben repräsentativ abgefragt, ob sie von Fremden angeschrieben werden. Bei den älteren Mädchen sagt das jede Zweite. Meistens wird es als positiv erlebt, aber es kommt auch hier zu Hatespeech oder zu unangenehmen Anmerkungen, die – gerade, weil die Mädchen oft sehr jung sind – noch mal eine ganz andere Bedeutung haben können.

Wenn wir über Sexualisierung sprechen: Nun kommen ja noch Plattformen dazu wie OnlyFans, wo sich vor allem junge Frauen für ihre zahlenden Abonnenten extra aufreizend inszenieren. Wie schätzen Sie das ein?

Wir haben insgesamt einen Verweis von Frauen auf ihre Körperlichkeit. Aussehen, Sexysein, erotische Attraktivität, meist für das andere Geschlecht, werden wieder als das zentrale Moment, der zentrale Wert von Frauen inszeniert, und da waren wir eigentlich schon mal weiter.

Kommen wir aus diesem feministischen Rückschritt in absehbarer Zeit wieder raus?

Ohne dass wir das auch mit politischer Unterstützung großflächig anlegen: Nein. Hier wirkt eine Eigenlogik des Marktes, es verkauft sich gut, es entspricht den Werten, die Menschen in Marketingabteilungen vertreten. Es ist kein geradliniger Weg von der perfekten Instagram-Welt zum sexy Dance auf TikTok, aber es wird sich weiter in diese Richtung schrauben, wenn wir nicht etwas dagegensetzen oder an Werten gezielt arbeiten, auch als Gesellschaft.

Dr. phil. Maya Götz leitet das Internationale Zentralinstitut für das Jugend- und Bildungsfernsehen (IZI) beim Bayerischen Rundfunk, den PRIX JEUNESSE INTERNATIONAL und ist pädagogische Leiterin von SogehtMedien, der Medienkompetenzplattform von ARD und ZDF. Frauen, Mädchen und Medien beschäftigten sie bereits in ihrer Dissertation. Goetz‘ Hauptarbeitsfeld ist die Forschung im Bereich "Kinder/Jugendliche und Fernsehen" mit internationaler und geschlechtersensibler Perspektive. Sie leitete über 180 empirische Studien, veröffentlichte 15 Bücher und ist weltweit in Fortbildungen für Kinderfernsehredaktionen tätig. Die aktuelle Studie "Faszination TikTok" erscheint Ende November 2020 in der Fachzeitschrift des IZI "TelevIZIon". 

Die Medientage München begleiten die Themen Social Media, Haltung, Gender-sensiblen Journalismus und Vielfalt im Rahmen der virtuellen Konferenz, die dieses Jahr vom 24. bis 30. Oktober 2020 erstmals im Netz stattfinden wird.

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