Das britische Reuters Institute sagt voraus: Im Jahr 2022 werden die massiven Veränderungen von Medienarbeit und -konsum durch die Corona-Pandemie in langfristige Prozesse und Geschäftsmodelle einfließen. So wird wegweisende Technologie die Anbieter mehr und mehr dabei unterstützen, das Publikum auf relevantere und persönlichere Weise anzusprechen. Mehr zum Wandel der Medienbranche im neuen Digital News Report der britischen Forscher:innen.
2022 könnte das Jahr werden, in dem der Journalismus eine Atempause einlegt, sich auf das Wesentliche konzentriert und gestärkt daraus hervorgeht. Und es wird ein Jahr der vorsichtigen Konsolidierung erwartet für eine Nachrichtenbranche, die durch die langwierige Corona-Pandemie „sowohl gestört als auch wachgerüttelt“ worden sei.
Das geht aus der aktuellen Studie „Journalism, Media, and Technology Trends and Predictions 2022“ hervor, die das Reuters Institute for the Study of Journalism an der Universität von Oxford jetzt vorgelegt hat.
Das britischen Team hält fest, dass sowohl Journalist:innen als auch das Publikum durch die Intensität der Nachrichtenagenda und die polarisierenden Debatten über Politik, Identität und Kultur bis zu einem gewissen Grad "ausgebrannt" seien. Nach dem Boom der Nachrichtenmedien vor knapp zwei Jahren mit dem Beginn der Pandemie aufgrund des großen Informationsbedürfnisses sind in weiten Teilen der Welt die Einschaltquoten der Nachrichtenmedien im Jahr 2021 wieder zurückgegangen.
Auch werde der Generationswechsel in Redaktionen weiterhin ein zentrales Thema sein, heißt es. Damit einher geht in Medienhäusern die Frage nach Vielfalt und Integration, neue Themen wie Klimawandel und psychische Gesundheit sowie das Verhalten von Journalist:innen in sozialen Medien.
Mit einer neuen Generation von Redakteur:innen werden wir gezieltere Versuche sehen, jüngere und unzufriedene Zielgruppen mit konstruktivem Journalismus anzusprechen und Geschichten mit Hilfe von Bildern und Daten besser zu erklären. Die Verbesserung der Berichterstattung über komplexe Themen wie Klimawandel und künstliche Intelligenz wird ein weiteres Thema sein, bei dem die Redaktionen in diesem Jahr in verschiedene Fähigkeiten und Ansätze investieren müssen.
Eine Herausforderung wird es zudem sein, die steigenden Kosten für Papier und Energie im Printbereich Druck durch eine schnellere digitale Transformation hin zu digitalen Angeboten zu kompensieren.
Allerdings legen die „Journalism, Media, and Technology Trends and Predictions 2022“ eine gewisse Abo-Müdigkeit dar, die diese Entwicklung ausbremsen könnte. Vor allem dann, wenn sich die wirtschaftlichen Bedingungen der Menschen verschlechtern.
Im Gegenzug sieht das Reuters Institute im Erlösbereich eine große Chance für vertrauenswürdige Medienmarken, nachdem zuvor digitale Werbeeinnahmen zu den großen Plattformen abgewandert seien. Verlage kommen aus Sicht der Forscher:innen die strengeren Datenschutzbestimmungen, die Daten Dritter einschränken, und die Sorge um Fake News entgegen, die Werbungtreibende zurück zu klassischen Qualitätsmedien bringen könnten.
Auch würde das Gerede über die Regulierung von Plattformen in diesem Jahr zur Realität, da die EU und einige nationale Regierungen versuchen, mehr Kontrolle über Big Tech auszuüben. Doch: „Werbung ist nach wie vor ein hart umkämpftes und schwieriges Geschäft, und nicht jeder Verlag wird Erfolg haben“, schränkt der Bericht ein.
Das jährliche Werk hebt dieses Mal die Bedeutung der Medien und der technischen Innovationen auf die Gesellschaft deutlich hervor. Die Technologien der nächsten Generation wie künstliche Intelligenz (KI), Kryptowährungen und das Metaversum (virtuelle oder halbvirtuelle Welten) würden die Menschen schon jetzt vor neue Herausforderungen stellen, aber auch neue Möglichkeiten der Vernetzung, Information und Unterhaltung bieten, heißt es.
Eine „zentrale Herausforderung für die Nachrichtenmedien“ in diesem Jahr sei es, diejenigen, die sich von den Nachrichten abgewandt hätten, wieder anzusprechen und engere Beziehungen zu den regelmäßigen Nachrichtenkonsument:innen aufzubauen.
Überwiegend zuversichtlich zeigen sich Redakteur:innen, CEOs und digitale Führungskräfte in Verlagshäusern. Die Studie „Journalism, Media, and Technology Trends and Predictions 2022“ beruht auf einer geschlossenen Umfrage unter 246 Personen aus 52 Ländern im November und Dezember 2021. Die Teilnehmenden waren eingeladen, weil sie leitende Positionen (redaktionell, kommerziell oder produktbezogen) in traditionellen oder digitalen Verlagsunternehmen innehaben und für Aspekte der digitalen oder allgemeinen Medienstrategie verantwortlich sind.
Bei Innovationen erwarten die Forscher:innen aus Oxford einen "back to basics"-Ansatz: Zwei Drittel der befragten Unternehmen (67 Prozent) geben ihnen gegenüber an, dass sie die meiste Zeit darauf verwenden werden, bestehende Produkte zu verbessern, um sie schneller und effektiver zu machen. Nur ein Drittel (32 Prozent) stellt die Einführung neuer Produkte und Markenerweiterungen an erste Stelle.
Konkret wollen Verlage mehr in Podcasts und digitale Audiodateien (80 Prozent) sowie in E-Mail-Newsletter (70 Prozent) investieren. Kanäle, „die sich als wirksam erwiesen haben, um die Kundenbindung zu erhöhen und neue Abonnenten zu gewinnen“, wie es heißt.
Autor Nic Newman verweist dabei im Bereich Audio auf die rasante Entwicklung im Vorjahr bei einer viel breiteren Palette digitaler Formate wie Audio-Artikel, Flash-Briefings und Audio-Nachrichten sowie Live-Formate wie Social Audio.
Trotz der großen Konkurrenz im boomenden Hörsektor sind viele der vom Reuters Institute Befragten überzeugt, dass Audio bessere Möglichkeiten für Engagement und Monetarisierung biete, als sie durch ähnliche Investitionen in Text oder Video erreichen könnten. Als Beispiel ist in der Studie die „New York Times“ angeführt, die laut ihren Ergebnissen für 2020 satte 36 Millionen Dollar mit Podcast-Anzeigen verdient hat.
Wichtig sei das Audio-Engagement auch fürs Marketing und die Gewinnung neuer Zielgruppen. Was Anbieter wie Tortoise Media oder Schibsted erfolgreich erkannt hätten. Die Skandinavier bauen nach der Übernahme der schwedischen Plattform PodMe auch in nordischen Ländern kostenlose und Premium-Audioprodukte auf. Podcasts, Bücher und Kurzformate seien jetzt zentraler Bestandteil der Schibsted-Gesamtstrategie, heißt es. Da Verlage auf der Suche nach den besten exklusiven Inhalten zu den großen Audio-Plattformen wie Spotify oder Podimo stoßen würde, sei zu erwarten, dass die Preise in diesem Jahr steigen werden, insbesondere für die größten Stars.
Des Weiteren raten die Autor:innen der Reuters-Studie: „Bereiten Sie sich auf eine weitere Umstellung auf Video vor.“ Gerade um ein jüngeres Publikum anzusprechen, würden viele Verlage in nativen Videoformaten einen Teil der Antwort erkennen.
Zumal die Bewegtbild-Anbieter es vormachen und zahlreiche Sender erfolgreich in eine Reihe von mobilfreundlichen Online-Videoformaten investieren würden, „die schnell auf den Punkt kommen oder nicht-traditionelle Themen ansprechen“. So experimentierten öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten wie die ARD mit maßgeschneiderten Videoinhalten für Drittanbieter-Plattformen wie TikTok und Instagram – mit Erfolg.
Für das Reuters-Team bleibt die Frage offen, ob dies für Nachrichtenverlage funktionieren wird. Frühere Versuche, Kurzvideos in sozialen Netzwerken zu monetarisieren, hätten sich als erfolglos erwiesen. Dennoch sei zu erwarten, dass Verleger 2022 mehr dieser Techniken übernehmen werden, zusammen mit dem Wachstum von Streaming-Plattformen wie Twitch, was zu einem neuen "Pivot to Video" beitragen werde.
Deutlich wird in der Studie auch: Künstliche Intelligenz, um personalisierte Erlebnisse und eine höhere Produktionseffizienz zu ermöglichen, liegt bei Medienunternehmen weiter hoch im Kurs. 85 Prozent sagen, dass diese Technologien für bessere Inhaltsempfehlungen und die Automatisierung von Redaktionen (81 Prozent) wichtig sein werden. 69 Prozent halten KI für entscheidend, um Kunden zu gewinnen und zu binden.
KI zählt zu den Innovationen, mit denen Verlage sicherstellen wollen, angesichts des sich verändernden Publikumsverhaltens relevant zu bleiben. Allerdings geben die Hälfte (51 Prozent) der befragten Verlage gibt an, dass sie in diesem Jahr nicht genug Geld haben, um in Innovationen zu investieren, teilweise beruhend auf Budgetkürzungen in der Corona-Phase.
Die größten Hindernisse für Innovationen sind nach Ansicht der Verleger der Geldmangel aufgrund der allgemeinen wirtschaftlichen Herausforderungen und die Schwierigkeit, technisches Personal zu gewinnen und zu halten.
Als weiterer Hemmschuh für Innovationen wird neben dem Fachkräftemangel die mangelnde Abstimmung (41 Prozent) zwischen verschiedenen Abteilungen wie Redaktion, Marketing, Werbung und Technik genannt.
Bei Zukunftsthemen wie Web3, Krypto oder NFTs sieht der Reuters-Bericht zum jetzigen Zeitpunkt „noch viel mehr Fragen als Antworten“. Eine Web3-Technologie, die indes erste Wellen schlägt, sind demnach NFTs (nicht-fungible Token). Der Begriff beschreibt ein einzigartiges Zertifikat, das das Eigentum an einem beliebigen digitalen Gegenstand wie einem Kunstwerk, ein Foto oder sogar eine Originalnachricht besiegelt. Das Zertifikat wird in einer dezentralen öffentlichen Blockchain abgelegt, die als Eigentumsnachweis dient. Dieser vermeintlich unbestechliche Beweis hat den Weg für die Freisetzung des enormen Wert von digitalen Kunstwerken.
Die Studie hält fest: „Dieser Prozess ist ein gutes Beispiel für die Web3-Prinzipien, bei denen die Schöpfer:innen in der Lage sind, die traditionellen Torwächter zu umgehen und direkt an die Öffentlichkeit zu verkaufen.“ Auch Nachrichtenorganisationen haben das Prinzip bereits getestet. Beispiel „New York Times“: Die renommierte US-Medienmarke versteigerte auf diesem Weg eine Audiobotschaft des Moderators von The Daily Podcast und die Chance, den Namen des Gewinners in der Zeitung zu veröffentlichen. Der Erlös wurde für wohltätige Zwecke gespendet.
n diesem Jahr sei nun mit einer verstärkten Nutzung von NFTs zu rechnen, die über Kunstspekulationen hinausgehen, heißt es in dem Report. Verlage könnten mit der Monetarisierung von Archiven experimentieren. Die Kehrseite: Ähnlich wie bei Kryptowährungen erwarten die Oxforder Studien-Autor:innen mehr Kontroversen über die Umweltauswirkungen von NFTs, die dieselbe energieintensive Blockchain-Technologie verwenden.
Für die Arbeitswelt in Medienhäusern prognostiziert der Reuters-Report, dass nach Corona und dem stellenweisen Zwang zu Remote Work nun Hybridarbeit zur Norm werde. Wörtliche heißt es: „Für das nächste Jahr können wir davon ausgehen, dass die meisten Mitarbeiter zwei bis drei Tage pro Woche im Büro und den Rest zu Hause verbringen werden.“ Mit vielen Vorteilen - durch die Telearbeit würden Hierarchien aufgebrochen und eine neue Welle von Redakteur:innen setze sich für eine positivere und vielfältigere Agenda ein.
Um mehr qualitativen und konstruktiven Journalismus bei einem Mangel an Budgets leisten zu können, beispielsweise bei originärer Klimaberichterstattung, betonen die Umfrageteilnehmer:innen die Vorteile einer Zusammenarbeit.
Ein Beispiel: European Perspective etwa erleichtere den Austausch von Originalinhalten zwischen den teilnehmenden öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten. Weiter heißt es, die automatisierte Übersetzung mit Hilfe von KI und maschinellem Lernen ermögliche wiederum die Nutzung dieser gemeinsamen Inhalte. Auch könnten staatliche Subventionen für lokale Medien Realität werden, um ihrer gesellschaftlichen Aufgabe gerecht werden zu können, meinen die Briten.
Aus Sicht des Reuters Institute sind dieses Jahr viele Verlage entschlossener denn je, ihr Geschäft auf digitale Medien auszurichten. Die andauernde Pandemie habe das Verhalten sowohl der Verbraucher:innen als auch der Journalist:innen verändert, und selbst wenn die Krise endlich vorbei sei, „werden wir alle mehr Zeit online und weniger Zeit gemeinsam in der Öffentlichkeit verbringen“, wie es heißt.
In diesem Zusammenhang werde es wichtiger denn je sein, digitale Verbindungen und Beziehungen aufzubauen. Hierfür würden Inhalte benötigt, die Usern helfen, sich in einer zunehmend unsicheren Welt zurechtzufinden, aber auch Produkte, die bequemer und relevanter sind und auf Interessengemeinschaften aufbauen.
Daher würden sich Medienanbieter 2022 vorrangig auf Innovationen rund um ihre Kerndienste konzentrieren, betont das Werk. Investiert würde in Formate wie Newsletter und Audio, „die nachweislich für Loyalität und eine hohe Nutzungsdauer sorgen“.
In der Studie „Journalism, Media, and Technology Trends and Predictions 2022“ werden zudem einige Entwicklungen aufgezeigt, die noch mit Fragezeichen versehen sind, in den kommenden zwölf Monaten allerdings durchaus eintreten könnten. So etwa eine weitere Konsolidierung im Verlagsgeschäft, um zu versuchen, als größere Einheiten das Abo- oder Werbegeschäft aufzuwerten.
Einige hochkarätige Unternehmen, die aus der digitalen Welt stammen, werden neue Eigentümer finden.
Es könnte aus Sicht des Reuters Institute auch das Jahr sein, in dem Verlage beginnen, stärker zusammenzuarbeiten, um den Herausforderungen in Bezug auf Publikum und Plattform zu begegnen. Im technischen Bereich sei mit einer Vielzahl neuer Geräte zu rechnen, darunter VR-Headsets und intelligente Brillen als Bausteine für das Metaversum und für neue Wege der Interaktion am Arbeitsplatz, heißt es.
Daneben gibt es noch einen Tipp für die Arbeitgeber:innen: Sie sollten auf öffentlichkeitswirksame Beispiele von Burnout bei Journalist:innen achten, „da die Belastungen durch den unerbittlichen Nachrichtenzyklus, die Telearbeit und den zunehmenden Autoritarismus ihren Tribut fordern“.
Der 48-seitige Report „Journalism, Media, and Technology Trends and Predictions 2022“ ist hier abrufbar.
Welche Trends für den deutschen Medienmarkt im Vordergrund stehen dürften, hat ein Event im MedienNetzwerk Bayern - wie die Medientage München ein Unternehmen der Medien.Bayern GmbH - thematisiert. Hier geht es zur Nachlese.
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