Die Umwälzungen waren schon in vollem Gange – dann kam die Pandemie. Dass das Publikum angesichts von Kontaktbeschränkungen 2020 noch mehr Zeit vor dem Bildschirm verbracht hat, wirkte wie ein Beschleuniger: Auf das Wachstum in einigen und die Schrumpfung in anderen Segmenten des TV-Marktes ebenso wie auf die Verbreitung technischer Innovationen. Der Blog der Medientage München gibt einen Überblick.
Fernsehmacher:innen haben’s gut: Wenn sie einen wirklich langwierigen Prozess darstellen wollen, benutzen sie einfach den Zeitraffer. Veränderung wird sichtbarer und für die Zuschauer:innen auch deutlich weniger langweilig. Innerhalb von Sekunden können wir am kompletten Lebenszyklus einer Narzisse teilhaben, vom ersten zarten Keim bis zum Verblühen. Oder auf animierten Karten dabei zuschauen, wie sich Kontinente in Millionen von Jahren bewegen.
Nun hat Corona den Zeitraffer für die Fernsehmacher:innen angeknipst: Ihre Branche bewegt sich auf einmal mit Warp-Speed auf dem Weg, den sie vor Jahren eingeschlagen, aber in einem gangbaren Tempo zurückgelegt hat. Die Digitalisierung des Fernsehmarktes bescherte neue Geräte, Abspielwege und Inhalte, machte klassischen Anbietern zu schaffen, eröffnete neue Kanäle, um Werbung auszuspielen. Diese Entwicklung verlief zügig, aber wie stets, wenn dabei das Verbraucherverhalten eine tragende Rolle spielt, nicht atemberaubend schnell.
Dann kam 2020, dann kam Corona: Viele Menschen waren plötzlich mehr zu Hause. Ein großer Teil von ihnen verbrachte mehr Zeit vor diversen Bildschirmen. Und gab Geld, dass nicht in Urlaubsreisen fließen konnte, für das Leben zu Hause aus.
Zeitraffer an.
Lang, länger, am längsten: Die Bildschirmzeit im Pandemiejahr stieg generell. 10 Minuten mehr, 220 Minuten am Tag, verbrachten die Zuschauer:innen mit klassischem Fernsehen (AGF, alle Seher ab 3 Jahren). Die mit Streaming verbrachte Zeit stieg um 46 Prozent.
Stärkster Sender 2020 laut AGF Videoforschung war erneut das ZDF mit 13,6 Prozent vor der ARD mit stabil 11,3 Prozent. Alle ARD-Dritten zusammen erreichten 13,7 Prozent der Zuschauer. Bei den Privatsendern erreicht RTL einen Marktanteil von 8,1 Prozent vor Sat.1 mit 5,7 Prozent, Vox mit 4,6 Prozent und ProSieben mit 4 Prozent.
Bei den Streaming-Diensten liegt noch immer Netflix mit sattem Wachstum (AGF: plus 7 Prozentpunkte auf 34,4 Prozent vom Gesamtmarkt) vor Amazon Prime Video (22,1 Prozent). Der große Gewinner 2020 ist aber der Drittplatzierte Disney+: Erst Ende März in Deutschland auf Sendung gegangen, meldet die AGF Videoforschung zum Jahresende 7,2 Prozent Nutzung. Damit hat das Disney-Streaming aus dem Stand den Sportanbieter DAZN überholt, der das Jahr mit 2,8 Prozent abschloss. 18 Millionen monatliche Nutzer hatten die kostenpflichtigen Dienste der AGF zufolge im vorigen Jahr. 82 Prozent von ihnen haben ein Netflix-Abo (2019: 75 Prozent), 59 Prozent sind bei Amazon Prime Video (2019: 62 Prozent), schon 11 Prozent Disney+.
Das passt zur These der Analysten von Goldmedia: Der Trend gehe zum Dritt-Abo, heißt es im „Trendmonitor 2021“. Derzeit bezahlen SVoD-Abonnenten im Schnitt zwei Dienste.
Auswahl haben sie reichlich: Sofa-Sieger Disney+ hat Ende Februar 2021 auch noch mit dem Erwachsenenprogramm nachgelegt und Disney+ Star eröffnet. Mit HBO Max (Warner), Peacock (NBC Universal) und Paramount+ (Viacom CBS) kommen bald weitere internationale Studios als Streamer dazu. Und dann sind da ja auch noch Apple TV+ und Sky sowie die teils werbefinanzierten, teils kostenpflichtigen Senderangebote TV NOW von RTL sowie Joyn von ProSiebenSat.1 und Discovery.
Die deutschen Senderfamilien haben entsprechend umfassende Investitionen für 2021 in Aussicht gestellt: Joyn macht zwar Verluste, die Betreiber zeigen sich aber zufrieden mit den Reichweiten und Werbeerlösen. RTL freut sich über die Entwicklung von TV NOW und meldete 1,286 Millionen zahlende Abonnent:innen Ende Dezember 2020 (+ 64 Prozent). Demnächst wird TV NOW nun umstrukturiert und namentlich als RTL+ wieder stärker an die Mediengruppe angebunden. ARD plant die „Super-Mediathek“ . Sky setzt auf Kooperationen und Eigenproduktionen.
Egal ob Streaming oder klassisches Fernsehen: Geschaut wird gern auf dem großen Fernsehgerät. Laut AGF-„Convergence Monitor“ mit Kantar lief VoD erstmals mehr auf dem Fernsehgerät (52 Prozent) als auf Computer/Laptop (37 Prozent) oder Smartphone (24 Prozent). Auf Tablets entfielen 19 Prozent.
Generell stieg der Anteil von Videoinhalten an der Internetnutzungsdauer in allen Altersgruppen. Aber auch die Mediatheken wurden häufiger aufgesucht. Die mindestens monatliche Nutzung stieg von 24 auf 29 Prozent.
Vertrauen genießen die öffentlich-rechtlichen Angebote: Die Mediatheken von ARD Das Erste und des ZDF haben 36 beziehungsweise 34 Prozent der Befragten schon einmal besucht. Auch setzt sich der Fernseher als Abspielgerät mehr und mehr durch: 2019 sagten etwa 20 Prozent, dass sie die Mediathek über das Fernsehgerät nutzen. 2020 waren es gute 30 Prozent. Möglich machen das Smart TVs.
2010 stellten die Hersteller die ersten internetfähigen Fernseher vor. Seither sind sie dramatisch günstiger geworden und leichter zu benutzen. Laut GfK waren zwischen Januar und September 2020 4,1 Millionen neue Smart-TV-Geräte verkauft worden; im selben Zeitraum 2019 3,6 Millionen. Aufgerechnet seit dem Marktstart 2012 mache das 44,3 Millionen Smart TVs.
2019 hatten je nach Umfrage bis zu 80 Prozent der Haushalte einen Smart TV daheim; 88 Prozent davon mit dem Internet verbunden (Quelle: Goldbach „Smart TV-Studie 2019“).
Was so selbstverständlich klingt, war fünf Jahre davor noch ganz anders: 2014, als Smart TVs noch eine vergleichsweise neue Technik waren, standen sie laut „Smart-TV Effects Studie“ von Tomorrow Fokus zwar schon in immerhin einem Viertel der Haushalte – von denen aber wiederum nur ein Viertel der Geräte für Onlinedienste verwendet wurden – lediglich gut 6 Prozent der Haushalte waren also mit ihrem Fernseher online.
2019 nutzten laut Goldbach drei Viertel der Befragten die zusätzlichen Funktionen; hier waren vor allem Video on Demand (VoD) und die Apps der Sender gefragt. 79 Prozent gaben an, Apps/VoD zu nutzen, bei HbbTV/Red Button waren es 66 Prozent.
Steigerungen gemessen haben hier auch AGF und Kantar, allerdings auf niedrigerem Niveau. Um zu ermitteln, wie weit der Red Button, der zu weiteren Informationen in Werbung und Programm führt, bereits verbreitet ist, prüfte Kantar, ob auf den Fernsehgeräten der Befragten entsprechende Hinweise erscheinen. Dieser Wert sei von im Lauf des Jahres 2020 von 40,8 Prozent auf 42,7 Prozent Anteil in den Haushalten gestiegen.
Das ermöglicht eine direktere Ansprache des Fernsehpublikums– und die ersehnte Lösung zum Streuverlusteproblem des Massenmediums Fernsehen. Feinjustierung dank Smart TV und adressierbarer, individualisierbarer Werbung.
Der Weg scheint frei. Die Akzeptanz von Addressable TV nimmt inzwischen zu. Galt die persönliche Ansprache per Fernsehgerät aufs Sofa bislang als Verletzung der Privatsphäre, gehört der große Bildschirm heute zum dynamischen, personalisierbaren Medienmix um die Konsument:innen herum.
Der Londoner Addressable-Spezialist Finecast hat die Wirkung von Addressable TV untersucht. Gemeinsam mit Neurowissenschaftler:innen wurden die Reaktionen von Probanden auf personalisierte Spots gemessen. Wenig überraschend: Die auf die zugeschnittenen Addressable-Formate gefielen besser und die Proband:innen erinnerten sich auch besser daran.
An Werbung in Streaming gewöhnen sich die Zuschauer:innen ebenfalls nach und nach. So schließt sich der Kreis: Personalisierbare, interaktive Werbeformen für Fernsehinhalte bringen klassisches TV und Streaming ins selbe Boot. NBC Universal testet in den USA beispielsweise bei seinem Streaming-Dienst Peacock "Voice Activated Streaming Ads": Damit lässt sich Werbung per Sprachbefehl steuern. Viel persönlicher geht es kaum.
Trotz der hohen Zahlungsbereitschaft für SVoD erweitert das die Chancen für die werbefinanzierten (AVOD) Dienste, zum Beispiel Rlaxx TV, Panataflix, Pluto TV oder Rakuten. Laut „Streaming Wars Report“ von Integral Ad Science seien gut drei Viertel der 500 Befragten bereit, Zugang zu kostenlosen Diensten mit dem Schauen von Werbung zu vergüten. Auch hier gilt: Je besser ein Spot zum Programm und zum Kunden oder der Kundin passt, desto eher wird er bis zu Ende gesehen.
Das digitale Targeting in der Fernsehwerbung, über das die Branche schon ein Weilchen redet, wird also endlich kommen. Bereits 2020 gehörte Addressable TV zu den Gewinnern. Eine Auswertung von D-Force, gemeinsamer Vermarkter der Privatsenderkonzerne RTL und ProSiebenSat.1, verzeichnete 2020 ein Umsatzplus von 161 Prozent gegenüber dem Gründungsjahr. Bereits 240 Addressable-Kampagnen habe man über die Plattform Active Agent realisiert, 80 Werbekunden haben hier automatisiert gebucht. In Deutschland wurden laut der Agentur Resolution Media rund 150 Millionen Euro mit Addressable-TV-Audio-Werbung umgesetzt (Digitalwerbung gesamt: 10,1 Milliarden Euro).
Laut Integral Ad Science erwarten 8 von 10 US-Mediaexpert:innen eine deutliche Verlagerung der Werbeausgaben vom linearen ins digitale Fernsehen. Innerhalb eines (Pandemie-)Jahres seien Connected TV (CTV) und Digital-TV (OTT) zum neuen Standard geworden, um Konsument:innen daheim zu erreichen, sagen die Studienautor:innen. CTV- und OTT-Inhalte haben für die Werbungtreibenden oberste Priorität. CTV biete den Vorteil, anhand der vielen Daten die Kampagnen optimieren zu können, sagten 80 Prozent der 200 Expert:innen.
So rechnet Emarketer damit, dass die US-Werbeinvestitionen in Connected TV – ohne Addressable TV – auf über 11 Milliarden Dollar steigen (2020: 8 Milliarden), für OTT auf 38 Milliarden.
Weltweit haben die Werbeausgaben für Programmatic CTV/OTT 2020 um 70 Prozent zugelegt. Das errechnete das auf Datensicherheit spezialisierte Unternehmen Pixalate mithilfe von Programmatic-Ad-Daten auf rund 300 Millionen Connected- bzw. OTT-Geräten.
Im Raum Europa, Nahost und Afrika (EMEA) dagegen gab es 2020 eine deutliche Corona-Delle, sodass zwischen Jahresbeginn und dem 3. Quartal 2020 die Ausgaben auf 50 Prozent fielen. Die Schockstarre fiel in das 2. Quartal, unmittelbar nach Beginn der Corona-Einschränkungen. Bereits ab Jahresmitte stiegen die Ausgaben wieder moderat, sodass damit zu rechnen ist, dass Europa den Trend aufgreifen wird. Das Werbegeld wird den Zuschauer:innen folgen, und die gehen zum Fernschauen ins Netz.
Laut dem Digitalwerbeverband IAB Europe geben die Hälfte der Werbekunden und alle befragten Werbeagenturen an, das Connected TV oder Addressable TV im ersten Halbjahr 2021 die wichtigsten Wachstumsbereiche für Digital Video sein werden.
Ein guter Zeitpunkt, um den Zeitraffer Vollgas weiterlaufen zu lassen. Vollgas in die Zukunft des Fernsehens.
Die Erfindung der Zeitraffer-Technik geht übrigens auf Georges Méliès und das Jahr 1897 zurück. Vergleichbar wegweisend, aber viel jünger ist die Erfindung des Smart TV, also des Fernsehgeräts, das klassisches Fernsehen und Internetfähigkeiten integriert.
Um Smart TV und die Zukunft des Fernsehens geht es bei „Connect! The Future of TV“ . Zum sechsten Mal widmet sich das MEDIENTAGE Special dem Thema Connected TV beziehungsweise Smart TV und dessen Auswirkungen auf TV-Markt und Sehverhalten.
Los geht es mit einer Preview am 24. Juni 2021. Geboten werden Insights und Impulse rund um das vernetzte Fernsehen in Zusammenarbeit mit unseren Partnern MEKmedia und der Deutschen TV-Plattform.
Mit einem ausführlichen Programm wird das MEDIENTAGE Special Connect! The Future of TV Ende Oktober Teil der MEDIENTAGE MÜNCHEN sein. Dort wird dann auch zum zweiten Mal der Connect! The Smart TV Award verliehen.
Du interessierest dich für Themen rund um die Medienbranche? Dann findest du hier im Blog der Medientage München noch mehr Lesenswertes.
Zudem kannst du Medienthemen auch hören: im neuen Podcast der Medientage München.