Werbefinanziertes Streaming auf dem Weg nach oben: Das Geschäft mit dem linearen Fernsehen kriselt – Streaming allerdings ist derzeit für die meisten Marktteilnehmer noch ein Zuschussgeschäft. Aussicht auf Erlöse bieten werbefinanzierte Angebote via AVoD (Ad-Supported Video on Demand) oder FAST (Free Ad-Supported Streaming TV). Und nachdem alle in der Branche lange darüber geredet haben, legen sie nun los. AVoD und FAST legen zu – international und in Deutschland.
Für die deutschen TV-Konzerne war 2023 ein hartes Jahr. Das klassische Werbegeschäft litt unter der Zurückhaltung der Kunden angesichts von Inflation und Multikrisen. Und dem Publikumsschwund, denn die Bewegtbild-Fans ziehen weiter: zu Online-Plattformen und Streaming-Diensten.
Die gute Nachricht: Die Werbekunden folgen – und finden bei werbefinanzierten Streamern (AVoD) nicht nur ein Angebot, sondern auch ein verständnisvolles Publikum. Darum haben die deutschen Privatsendergruppen das Jahr mit – auch – guten Nachrichten beschließen können: RTL erreicht mit seinem Streamer RTL+ 23 Prozent der regelmäßigen Nutzer:innen (Stand: Oktober 2023) und liegt damit auf Platz vier hinter Amazon Prime Video, Netflix und Disney+. Und ProSiebenSat.1 (Platz sechs) meldete ein Plus von 58 Prozent bei den AVoD-Werbeumsätzen seiner Plattform Joyn (3. Quartal 2023 vgl. mit Vorjahr).
Die 2010er-Jahre, als Flexibilität, Werbefreiheit und günstige Preise Zuschauer:innen in Scharen zu den neuen Streamern lockten, sind vorbei. Bei einem oder mehreren Streaming-Diensten sind inzwischen fast alle – aber günstig und werbefrei ist davon keiner mehr. Sondern entweder – oder.
Marktexpert:innen wie diejenigen beim Beratungskonzern Deloitte rechnen nicht mehr nur damit, dass die internationalen Anbieter von Bewegtbild im Abo werbeunterstütze Angebote umsetzen (was Amazon Freevee, Netflix, Disney+, Paramount+ und weitere längst tun), sondern dass „bis Ende 2024 die Hälfte dieser Anbieter einen linearen, werbebasierten Streaming-TV-Dienst (Free Ad-Supported Streaming TV, FAST) einführen“ werden.
Wie das Verschmelzen von werbefinanziertem linearem mit zeitversetztem Programm aussieht, machen die vor, die vom traditionellen Fernsehen kommen: Das Beispiel Joyn zeigt, dass eine Bündelung der Free-TV-Programme im jahrzehntelang gewohnten Programmschema parallel zu einem On-Demand-Angebot aus Eigenproduktionen, News und Lizenzware auf einer Plattform Platz findet. Auf der dann mal mehr, mal weniger Werbung zu sehen ist.
Der Startbereich von Joyn: Shows und Highlights, aber auch Live-TV (mit allen Free-TV-Programmen außer denen der RTL-Familie, die mit RTL+ auf dem Markt sind) gibt es bereits mit dem kostenlosen Zugang (Screenshot).
Joyn bündelt eigene und fremde Free-TV-Sender erst mal gratis und mischt VoD-Kanäle mit beliebten Serien und Shows aus dem eigenen Programm ebenso darunter wie kostenpflichtige Spezial-Formate, etwa hier den konstanten Livestream zu „Promi Big Brother“ (Screenshot).
RTL+ bindet sein Plattform-Angebot stärker an das Abo-Bezahlmodell: Nur dafür gibt es Live-TV, im Programm sind ausschließlich Sender der RTL-Familie. Einzelne Mediatheken-Sendungen sind kostenfrei abrufbar.
Dafür umfasst das Bezahl-Abo auch Musik, Hörbücher, Artikel aus Zeitschriftenmarken und weitere Inhalte aus dem Bertelsmann-Konzern, der Magazine von Gruner + Jahr übernommen hat.
Live-TV bei RTL+: Alle Inhalte der Senderfamilie gibt es im Abo.
Nach dem Experiment, hochklassigen Content allein mit Abonnements zu finanzieren, scheinen die Unterhaltungskonzerne nicht nur in Deutschland kleinlaut zu dem Konzept zurückzukehren, das als „klassisches Fernsehen“ bekannt wurde: Werbung rund um oder mitten in den Dokus und Shows, Spielfilmen und Serienfolgen.
Was bleibt vom Streaming, sind die Gebühren und der Verbreitungsweg, der den Konsum unabhängig von Ort, Gerät, Zeit und den Vorlieben von Programmchef:innen und Mitbewohner:innen macht.
Ein Beispiel ist Netflix: Vor einem Jahr hat der Streamer einen vergünstigten Tarif eingeführt, der Werbung zeigt – das galt lange als No-Go. Nun ist es ernst – wie wichtig die Vermarktung und der deutsche Werbemarkt für Netflix sind, zeigt eine Personalie: Der Konzern hat zum 1. Oktober Susanne Aigner als Vermarktungschefin geholt, Aigner führte bis Mitte 2022 Warner Bros. Discovery Deutschland. „Als Head of Advertising Germany wird es ab sofort meine Aufgabe sein, die Vermarktung von Netflix durch Werbung auf- und auszubauen“, sagt Aigner. Eine große Aufgabe, denn neben der nationalen Konkurrenz buhlen auch Amazon Freevee und Disney+ um willige Webrekunden.
Gute Aussichten weltweit und hierzulande prognostiziert das Forschungsunternehmen Digital TV Research: Es geht um Milliardenerlöse aus AVoD. Demzufolge soll 2028 allein Disney+ rund 8,7 Milliarden US-Dollar mit AVoD erwirtschaften (siehe Grafik). Zum Vergleich: Der deutsche Markt kommt in diesem Jahr 2023 voraussichtlich auf einen Umsatz von etwa 0,65 Milliarden Euro – 2028 könnten das bereits knapp 1 Milliarde Euro sein, durchschnittlich wäre das ein jährliches Umsatzwachstum von 8,78 Prozent.
Statista hat auf Basis der Daten von Digital TV Research dargestellt, wie viel Geld 2028 bereits aus dem werbefinanzierten Streaming kommen wird (Quelle: Statista).
Im linearen FAST rechnet Digital TV Research mit weltweit zusätzlichen 17 Milliarden US-Dollar (mit Serien und Filmen) im Jahr 2029 (2023: 8 Milliarden). Dazu werden mehr und mehr Märkte außerhalb der USA beitragen, so die Expert:innen. Und drei große Anbieter, prophezeit Simon Murray, Gründer von Digital TV Research: „Pluto TV, Roku Channel und Samsung TV Plus werden bis 2029 beinahe die Hälfte der weltweiten FAST-Umsätze beisteuern.“ Der Rest des Marktes werde zerstückelt bleiben und – und weniger globalisiert als der SVoD-Markt (Subscription VoD/Abo-Modell).
Die Marketingentscheider sind dabei: Laut einer Umfrage von Co-Lab Media Consulting im Auftrag des Freewheel-Vermarkters Audience Xpress unter 500 Marketern aus Deutschland, Italien, Großbritannien, Frankreich und Spanien wollen sie verstärkt in FAST und AVoD investieren. Gerade weil sie derzeit berichten, dass sie mit weniger Budget mehr erreichen müssten.
Wo Nachweise für Kampagnenwirkung gefordert sind, nimmt der Befragung zufolge die Bedeutung von Advanced TV (Streaming via Internet) zu, weil Werbung hier eine Steigerung der Reichweite und der Werbeeffizienz verspreche. Markensicherheit und personalisierbare Werbeformate seien weitere Vorteile.
Darüber hinaus scheint sich zu manifestieren, was Fernseh-Vermarkter ins Feld führen, seit der Großteil der Werbebudgets ins Internet fließt: Werbewirkung – seit jeher einer der Pluspunkte der klassischen Medien. Im werbevermarkteten Streaming, sei es per AVoD oder FAST, treffen sich die Vorzüge des wirksamen Werbeumfelds TV mit der Messbarkeit und den Aussteuerungsmöglichkeiten von online.
So kam beispielsweise eine aktuelle Studie des US-Kabelnetzbetreibers Comcast zum selben Ergebnis wie die Screenforce-Studien „Not all Reach is Equal“ oder „Track the Success“ zu dem Schluss: Werbung im Fernsehen wirkt besser und wird aufmerksamer geschaut als Ads auf den Riesenplattformen, wo der Großteil des Geldes ausgegeben wird, also YouTube, Facebook, Instagram.
Diese Internetgiganten scheinen noch nicht in Gefahr – aber zumindest nährt die rasche Entwicklung von AVoD und FAST die Hoffnung, dass die Fernsehplattformen einen Teil des Kuchens behalten können.
Hosentaschenfernsehen vs Big Screen: Wie gucken und streamen wir künftig? Welche Trends setzen sich durch? Welche Media- und Business-Modelle sichern zukunftsfähige Content-Strategien fürs (vernetzte)TV, für den Stream, Video on Demand oder auch für Social Video? Welche Player haben mit ihren Technologien und Anwendungen das Sagen? Und wer sind die Gatekeeper von morgen?
Antworten auf diese Fragen gibt das #MTM SPECIAL FUTURE VIDEO 2024. Die Konferenz findet am 24. April 2024 im House of Communication in München statt und widmet sich der Zukunft von Video: ein Tag mit Insights von namhaften Branchenexpert:innen und wegweisenden Konzepten von Unternehmen aus der Bewegtbildwelt.
Die Zusammenfassungen wichtiger Panel-Diskussionen sowie Bildmaterial der 37. MEDIENTAGE MÜNCHEN stehen in der Mediathek der Medientage-Homepage und auch im Blog der Medientage bereit.
Die Medienthemen können auch gehört werden: im Podcast der Medientage München.