Weshalb der Purpose-Trend bei Agenturen keine aktuelle Entwicklung ist und ein Schulterschluss von Politik und Wirtschaft notwendig wäre, um den digitalen Giganten Google, Apple, Facebook und Amazon etwas entgegenzusetzen, zeigten Marketing-Expert:innen bei den MEDIENTAGEN MÜNCHEN 2021.
Stecken wir in einer Marketing Midlifecrisis? In seinem Impuls zählte Holger Thalheimer, CEO PHD Germany, mehrere Symptome auf, die auf eine Krise der Branche hindeuten:
- Symptom 1: Taktifizierung des Marketings
Wir setzen einen viel zu kurzfristigen Blick auf Messbares und einzelne Kampagnen, glaubt der Marketing-Experte. Was fehle, sei der langfristige, nachhaltige Markenaufbau.
- Symptom 2: Joy of missing out
Thalheimer ist sich sicher: Wir müssen über neue Relevanzparamenter sprechen. Purpose, Vertrauen und Convenience werden in Zukunft sicher stärker gefordert sein.
- Symptom 3: Expectation und Attention Economy
„Wir reden den ganzen Tag über Reichweiten, es ist aber wichtig, eine Korrektur reinzulegen, nämlich die Aufmerksamkeit“, so Thalheimer.
Für Ines Imdahl, Geschäftsführerin rheingold salon, hat sich vor allem das Heilsversprechen rund um Digitalisierung und Big Data nicht bewahrheitet. Die Menschen seien sehr viel stärker genervt von Werbung.
V.l.n.r.: Holger Thalheimer, Jürgen Scharrer, Susann Schramm und Christof Baron. Zugeschaltet: Ines Imdahl.
Es gebe eine totale Überforderung, deshalb blenden Nutzer:innen Werbeinhalte aus, ergänzt Thalheimer. Marken müssen herausfinden, wie sie für die Nutzer:innen relevant sein können.
Es ist Zeit, weg von der Lupe und hin zum Fernglas zu gehen.
Holger Thalheimer
Susan Schramm, Vorstand Marketing & Chief Marketing Officer bei McDonald’s Deutschland betont, Purpose wirke wie ein Hype, weil jeder darüber spricht. Grundsätzlich gehe es aber darum, etwas zu zeigen, für das man als Marke glaubwürdig stehen kann. „Stülpt man sich als Marke eine Kappe über, merken User:innen das schnell“, so Schramm.
Die Sinnfrage sei ohnehin keine neue Entwicklung, glaubt Imdahl. „Die Purpose-Diskussion ist für mich nur ein neuer Begriff für das, was für jede Marke schon immer wichtig war. Marken müssen Bedürfnisse erfüllen.“
Ist das Media Business ernsthafter geworden?
Das Media Business stehe in der Verantwortung, glaubt Thalheimer: Es sei genauso Abbild der Gesellschaft wie andere Unternehmen, und habe eine Vorbildfunktion. So seien Agenturen mittlerweile nicht nur Dienstleister, sondern auch geschätzte Berater von Kunden.
Auf die Frage, ob es auch eine Verantwortung der Werbebranche gegenüber GAFA gebe, hat Mediastratege Christof Baron eine klare Meinung: „Ich denke schon, dass es eine Verantwortung gibt. Da sind aber alle gefordert, ein Schulterschluss von Politik und Wirtschaft. Das kann keiner allein lösen.“
Die Verantwortung sollte nicht bei Algorithmen liegen
Alles werde immer komplexer, große Plattformen dominieren, so Michael M. Maurantonio, Ad Fraud Investigator, HOT AG Business Development. Die Komplexität habe dazu geführt, dass Marken die Verantwortung an Tools übergeben und Algorithmen entscheiden lassen, welche Werbebotschaft wo platziert werde.
Wenn jährlich weltweit Milliarden an Werbegeldern in die Hände von Rassisten, Extremisten und Desinformation fallen, kann Medienvielfalt und damit ein wichtiger Pfeiler der Demokratie nicht erhalten bleiben.
Michael M. Maurantonio
Maurantonio sieht vor allem ein Problem im blinden Vertrauen auf Maschinen: „Niemand weiß, wie Algorithmen arbeiten und wie sie entscheiden, was gezeigt wird oder nicht.“ Einschlägiges Beispiel sind hier etwa die digitalen Werbekampagnen für rabattierte Schiffsreisen, die 2012 im Umfeld der Unglücksmeldungen der havarierten Costa Concordia ausgespielt wurden.
Eine Frage des Geldes?
Für Oliver Hülse, Geschäftsführer Central Eastern Europe, Integral Ad Science, sind vor allem zwei Faktoren verantwortlich dafür: Es werden nicht genug Fragen gestellt seitens des Verkäufers oder auch nicht genug Forderungen des Werbetreibenden. Das erschwere die Einordnung von Themen.
Dr. Andrea Malgara und Oliver Hülse
Eine Problematik im Preis sieht Dr. Andrea Malgara, Geschäftsführer der Mediaplus Gruppe. Werbungtreibende seien kaum bereit, mehr zu zahlen, um auf die Beratung von Agenturen zurückzugreifen. Stattdessen setzen sie auf schlechtere Angebote oder Eigenleistung.
Normalerweise gelte: Wenn man nicht in der Materie steckt, greift die Annahme „je teurer desto besser“. Im Werbemarkt allerdings bestimmt das Gegenteil die Wahrnehmung: Je günstiger desto besser. Laut Malgara ein Paradox der Branche.
Die hybriden MEDIENTAGE MÜNCHEN 2021 stehen unter dem Motto "New Perspectives". Dabei blicken wir auf die Zeit nach der Corona-Pandemie und zeigen neue Perspektiven und Geschäftsmodelle auf.
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