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Es geht ein Ruck durch Fernseh-Deutschland

16. April 2021

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RTL wird älter und nachrichtlicher, ProSieben und RTLZwei werden ernsthafter: Das Fernsehjahr 2021 bringt deutlich sichtbare Veränderungen mit sich, die sich seit geraumer Zeit angebahnt haben. Vor allem eine neue Ernsthaftigkeit steht der Gattung richtig gut. Eine Analyse im Blog der Medientage München.

Gerade vergeht kaum eine Woche ohne Ankündigungen aus der TV-Branche, wie in einer neuen Art und Weise an den privaten Programmen gearbeitet wird.

Nehmen wir nur diese Woche: Sie startete mit der Meldung, dass ProSieben mit einer kurzfristigen Programmänderung am 19. April zur besten Sendezeit um 20:15 Uhr, „live und exklusiv das erste ausführliche Gespräch mit der ersten, frisch gekürten Kanzler-Kandidatin oder dem ersten, frisch gekürten Kanzler-Kandidaten in der Geschichte von Bündnis 90/Die Grünen“ direkt nach Verkündung durch den Bundesvorstand der Partei ausstrahlen wird. Interviewt werden Annalena Baerbock oder Robert Habeck in Berlin von Katrin Bauerfeind und Thilo Mischke.

Für dieses politische Spezial wird nicht etwa ein Comedy-Format um 45 Minuten nach hinten geschoben. Nein, gegen 21 Uhr startet der eigentlich für 20.15 Uhr vorgesehene zweite Serien-Part der preisgekrönten US-Produktion „Chernobyl“. Die Atomkatastrophe von Tschernobyl am 26. April 1986 ist von HBO als authentische und kritische Miniserie in fünf Teilen aufbereitet worden. Den Lohn für die für ProSieben eher ungewöhnliche Programmierung am bisherigen „Comedy-Montag“ fuhren die Münchner am Dienstagmorgen ein: ProSieben konnte sich für die ersten drei Folgen von „Chernobyl“ in der Primetime mit 16,7 Prozent Marktanteil bei den 14- bis 49-Jährigen zum „Marktführer um 20:15 Uhr“ erklären. Im Anschluss erreichte der erste Teil der Doku-Reihe "Tschernobyl" sehr starke 17,0 Prozent Marktanteil bei den Werberelevanten.

 

In Köln zog Bohlen aus, Hofer und Hape ziehen dafür ein

Mit der Ankündigung von RTL geht es diese Woche weiter. Die Kölner haben jüngst die Ära Dieter Bohlen beendet und erhöhen nun den Nachrichten-Anteil: Der Privatsender bringt demnächst eine zweite Ausgabe von „RTL Aktuell“ an den Start.

 

Die Entscheidung mag sicher auch auf der guten und stabilen Publikumsbeteiligung der News fußen; RTL Aktuell“ erreicht nach Senderangaben täglich im Schnitt 4,00 Millionen Zuschauer:innen und ist mit einem Marktanteil von 20,0 Prozent (14-59) beziehungsweise 19,7 Prozent (14-49) „die erfolgreichste Nachrichtensendung bei den Jungen“.

Doch klar ist auch: RTL verändert im größeren Stil sein Antlitz und strebt damit ältere und interessierte Zielgruppen an, die eher ein Faible für das ZDF haben. Erst Ende März verkündete das Kölner Team, dass der seriöse Ex-„Tagesschau“-Chefsprecher Jan Hofer zu den Kölnern stoßen wird. Die Details für ein regelmäßiges Newsformat mit dem langjährigen öffentlich-rechtlichen Aushängeschild als Anchorman will RTL im Sommer verkünden.

Somit setzen die Kölner künftig weniger auf Krawall im Bemühen um jüngere Zuschauen und dafür mehr auf kluge Inhalte für ein älteres Publikum. Das soll dann aber auch seinen Spaß haben: Nippes mit Niveau, das kann Hape Kerkeling, der ab Herbst für eine neue RTL-Serie dreht und damit seine 2014 verkündete Sendepause beendet. Darüber hinaus sind mit der Rückkehr des Comedians, Moderators, Entertainers, Schauspielers und Kabarettisten weitere Formate für TV und Streaming in der Kölner Senderfamilie geplant. Haltung darf einfach auch mal unterhalten.

RTLZwei fördert journalistische Arbeit

Auch RTLZwei setzt auf Tiefgang. Bei der Veranstaltung Media Insights TV des MedienNetzwerk Bayern hob Sender-Chefredakteurin Konstanze Beyer neuere Formate wie „Endlich Klartext“ mit Comedian Abdelkarim oder „Echtzeit“ hervor, ein Reportageformat, das unter anderem in Kriegsgebiete führt.

Mit dem neuen Projekt Doku Lab wird der Münchner Privatsender künftig aktiv mehr Vielfalt im Programm fördern: Bis zu zehn journalistische Produktionen kreativer Filmemacher sollen mit einem Gesamtbudget von 100.000 Euro unterstützt werden. Eine bunt gemischte Jury entscheidet über die Vergabe.

Aktuell engagiert sich RTLZwei zusätzlich mit einer Kampagne gegen Hass im Netz. Unter dem Motto "Hass hat Hausverbot!" klären prominente Sendergesichter und Mitarbeiter des Münchner Privatsenders auf und sensibilisieren für das Thema. RTLZwei will nach eigenen Angaben die junge Zielgruppe mobilisieren und dazu bewegen, nicht wegzuschauen, sich einzumischen, Stellung zu beziehen. Für die Aktion wirbt der Kanal im Programm, im Netz und über ausgewählte Printmedien.

 

TV hat sich in den vergangenen zwölf Monaten verändert

Alles in allem haben die kommerziellen Sender erkannt, dass sie viel zum Public Value beitragen können. Gesellschaftlich relevante Themen gelangen über das Vehikel Privat-TV an Zielgruppen, die die öffentlich-rechtlichen Sender nicht erreichen. Fürs Bunte binden die privaten Sender mehr und mehr die eigenen Streaming-Beiboote in Unternehmensstrategien ein.

Gute Beispiele für tiefgreifende Veränderungen und eine neue Ernsthaftigkeit lieferte das Fernsehjahr 2020 bei ProSieben, als dort die TV-Influencer Joko & Klaas mit Themenschwerpunkten auf die Belästigung von Frauen oder die Situation im Flüchtlingslager Moria aufmerksam machten. Welche Wirkmacht sich durch gut recherchierte Reportagen entfalten kann, bewies Reporter Thilo Mischke mit der ProSieben-Sendung „Rechts. Deutsch. Radikal“. Noch vor Ausstrahlung der werbefreien Sonderprogrammierung trat ein AfD-Mitglied zurück.

Mag sein, dass hinter vielen Programmentscheidungen wirtschaftliche und medienpolitische Gründe stehen. Zum einen gibt es mehr Werbekunden, die „Purpose“ auf ihre Flaggen schreiben und konsequent passende Werbeumfelder mit Reichweite und Haltung suchen. Gut, dass das Corona-Jahr 2020 dem wissensvermittelnden Part des Fernsehens starke Einschaltquoten bescherte – über alle Zielgruppen und alle Sender hinweg. Dass der neue Medienstaatsvertrag seit Inkrafttreten im vergangenen November den Informationsgehalt der Programme nochmals präzisierte, dürfte die Verantwortlichen in den Sendern daher kaum irritiert haben. 

Doch die Veränderungen scheinen nachhaltig zu sein. ProSiebenSat.1 etwa baut gerade an einer Nachrichtenzentrale in Unterföhring, in der ab 2023 ein neu aufgestelltes Team wieder konzernintern Informationssendungen für die Sender der Familie produzieren wird (... vielleicht sogar mit der Noch-„Tagesschau“-Sprecherin Linda Zervakis als Aushängeschild?).

Ein Ruck geht durch TV-Deutschland, ein neues Selbstbewusstsein macht sich breit. Alles in allem ist das private Fernsehen in den vergangenen Monaten ein nachdenklicherer Ort geworden. Das steht ihm gut.

 


Die MEDIENTAGE MÜNCHEN finden dieses Jahr vom 25. bis 29. Oktober statt. Sie stehen unter dem Motto New Perspectives. Dabei blicken wir auf die Zeit nach der Corona Pandemie und zeigen neue Perspektiven auf. Dazu zählen aus unserer Sicht auch Medien mit Haltung.

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im neuen Podcast der Medientage München. Die neueste Folge dreht sich um „Haltung und Public Value im Privatfernsehen“.

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