Dem Reuters Institute schwant, dass Krisen, Krieg, Klimawandel und Inflation die klassische Medienarbeit in neue Bahnen lenken werden. Denn eine deprimierende Agenda schrecke immer mehr Menschen vom Medienkonsum ab. Mit Folgen: Die britischen Wissenschaftler:innen definieren die zunehmende Nachrichtenvermeidung als größte Herausforderung des Medienjahres 2023 – neben den wirtschaftlichen Unwägbarkeiten. Der diesjährige Digital News Report prognostiziert zudem, dass auch Tech-Plattformen unter Druck geraten.
Gut, der jährliche Digital News Report des Reuters Institute fokussiert sich mit seiner Umfrage vor allem auf klassische Medienhäuser, auf CEOs, Digitalchefs und leitende Redakteur:innen. Für die aktuelle Ausgabe wurden 303 Führungskräfte in 53 Ländern weltweit befragt. Dennoch liefert das Werk alljährlich zum Jahresstart eine umfassende Prognose über den Tellerrand der Publishing- und Broadcasting-Branchen hinaus. In der Regel trifft in der Folge für den Mediensektor zu, was die Wissenschaftler:innen aus Oxford ermitteln – sogar in den vergangenen drei Krisenjahren mit Corona-Pandemie und Krieg.
Umso mehr sollten sich Medienschaffende Gedanken machen über zentrale Aussagen der 2023er-Ausgabe: Als eine der Hauptsorgen benennt der Report mit dem Titel "Journalism, Media, and Technology Trends and Predictions 2023“ die zunehmende Vermeidung von Nachrichten. Medienwissenschafter Nic Newman vom Reuters Institute ordnet die Ergebnisse ein; er führt diese Entwicklung auf eine anhaltend deprimierende Agenda zurück. Der Nachrichtenfokus auf Krisen wie Klimawandel, Krieg, galoppierende Inflation und Pandemien hinterlasse seine Spuren beim Publikum, heißt es da. Die Folge: Angst statt Interesse. Zwar habe der Journalismus unter ähnlichen Bedingungen in der Vergangenheit oft profitiert. Doch dieses Mal treibe die unerbittliche Art der Nachrichten viele Menschen weg aus den klassischen Medien, so Newman.
Wird 2023 das Jahr sein, in dem Redaktionen ihre Arbeit in neue Bahnen lenken (müssen), um der „News Fatigue“ entgegenzuwirken?
Die vom Reuters Institute befragten Manager:innen nennen bereits Lösungsansätze für die Herausforderung: Erklärende Inhalte und Frage-Antwort-Formate sollen demnach der Nachrichtenmüdigkeit entgegenwirken. Die Zeichen stehen demnach auf Content, der "mehr Hoffnung, Inspiration und Nützlichkeit" vermittelt.
Und: Erstmals prognostiziert das Reuters Institute, dass große Tech-Plattformen – die sozialen Netzwerke der ersten Generation - unter Druck geraten. Und zwar nicht nur wegen des wirtschaftlichen Abschwungs, der breit thematisiert wird. Facebook und Twitter hätten Mühe, ihr Publikum zu halten, da ältere Menschen sich langweilen und jüngere User zu neuen Netzwerken wie TikTok abwandern würden, beschreibt das Werk.
Auch keimt bei den Befragten der Studie die Hoffnung auf, dass neue Anbieter womöglich mehr Wert auf Inhalte legen könnten, die gut für die Gesellschaft sind, und weniger auf solche, die Hass und Ärger säen.
Einige Prognosen im Detail:
- Alles in allem sind die befragten Medien-Führungskräfte Reuters zufolge 2023 für ihr Geschäft deutlich weniger zuversichtlich als zuletzt für das vergangene Jahr. Nur 44 Prozent blicken optimistisch auf das angelaufene Jahr. Jeder Fünfte (19 Prozent) hat nur geringes Vertrauen in die kommenden Monate. Die größten Befürchtungen beziehen sich auf steigende Kosten, ein geringeres Interesse seitens der Werbekunden und einen Rückgang der Abonnements. Doch selbst diejenigen, die zuversichtlich sind, rechnen spätestens im nächsten Jahr mit Entlassungen und anderen Kostensenkungsmaßnahmen.
- Von Kündigungen könnten Newman zufolge vor allem die Bereiche TV- und Radionachrichten betroffen sein, die mit der besagten Nachrichtenmüdigkeit und der Konkurrenz durch Streaming-Diensten zu kämpfen haben. Immer mehr TV-Anbieter könnten europaweit offen über eine Zeit sprechen, in der lineare Übertragungen abgeschaltet werden, schätzt das Team Reuters. Die teilweise Umstellung von Netflix auf ein werbebasiertes Modell erhöhe den Druck auf die Werbeeinnahmen weiter, heißt es.
- Über den Hang zur Nachrichtenvermeidung bei Usern sorgt sich ein Großteil der Publisher, konkret sind es 72 Prozent. Insbesondere bei wichtigen, aber oft deprimierenden Themen wie der Ukraine-Berichterstattung und dem Klimawandel bangen die Anbietenden um ein interessiertes Publikum. Nur zwölf Prozent der Führungskräfte zeigen sich nicht besorgt.
Die Befragten planen dem Report zufolge, mit erklärenden Inhalten (94 Prozent), Frage- und Antwortformaten (87 Prozent) und inspirierenden Geschichten (66 Prozent) gegen die Nachrichtenmüdigkeit ankämpfen zu wollen – die sie in diesem Jahr für „wichtig“ oder „sehr wichtig“ halten. Die Produktion von mehr positiven News (48 Prozent) gelte als weniger wichtig, berichtet Medienwissenschafter Nic Newman vom Reuters Institute.
- Da die Auswirkungen des Klimawandels immer deutlicher werden, hat die Nachrichtenbranche ihre Berichterstattung über dieses komplexe und vielschichtige Thema überdacht. Etwa die Hälfte (49 Prozent) gibt an, dass sie ein „Klimateam“ installiert haben, um die Berichterstattung zu verstärken. 31 Prozent haben mehr Mitarbeiter:innen eingestellt. Knapp die Hälfte (44 Prozent) gibt an, dass sie Dimensionen der Klimadebatte in andere Berichterstattungen (beispielsweise Wirtschaft und Sport) einbinden. 30 Prozent haben eine Klimawandelstrategie für ihr Unternehmen entwickelt.
- Aufgrund erhöhter Druckkosten und geschwächter Verteilernetzwerke werden aus Sicht der Oxforder Wissenschaftler:innen in diesem Jahr mehr Zeitungen ihre tägliche Printproduktion einstellen. Daneben könnten mehr große Titel auf Online-only-Modelle umstellen, glauben die Wissenschaftler:innen.
Mehr Medienunternehmen investieren der Umfrage zufolge dieses Jahr in neue Abo-Modelle und Mitgliedschaften. Eine Mehrheit von 80 Prozent hält den Vertriebsumsatz weiterhin für eine der wichtigsten Erlösquellen, noch vor Werbung. Zwei von drei Befragten (68 Prozent) erwarten trotz sinkender Konsumausgaben in der Bevölkerung ein Wachstum bei Paid Content.
- Publisher geben demnach an, dass im Schnitt drei oder vier verschiedene Einnahmequellen in diesem Jahr wichtig oder sehr wichtig sein werden. Ein Drittel (33 Prozent) erwartet nun erhebliche Einnahmen von Technologieplattformen für die Lizenzierung von Inhalten (oder Innovationen), was einen deutlichen Anstieg gegenüber dem Vorjahr darstellen würde. Damit könnten die Früchte mehrjähriger Vereinbarungen geerntet werden, die teils auf höchster politischer Ebene angesiedelt waren.
Hier ein Überblick:
- Führungskräfte überdenken den Umgang mit Social Media. Das liege unter anderem an der „möglichen Implosion von Twitter unter der Leitung von Elon Musk“, wie es Nic Newman formuliert. So wollen die Nachrichtenhäuser weniger auf Facebook (minus 30 Prozent) und Twitter (minus 28 Prozent) setzen. Stattdessen sollen mit TikTok (plus 63 Prozent), Instagram (plus 50 Prozent) und YouTube (plus 47 Prozent) stärker Plattformen bespielt werden, die sich an ein jüngeres Publikum richten.
Da in diesem Jahr weitere Gesetze zur Einschränkung "schädlicher" Inhalte in sozialen Medien geplant sind, befürchten viele der Befragten (54 Prozent) darüber hinaus, dass diese neuen Regeln es Journalist:innen und Nachrichtenorganisationen erschweren könnten, Berichte zu veröffentlichen, die den Regierungen nicht gefallen.
- Plattform-Riesen wie Amazon, Apple und Microsoft konzentrieren sich laut Report auf das Wachstum ihres Werbegeschäfts. Die Sorgen um die Nachrichtenindustrie würden wahrscheinlich eine geringe Priorität haben, heißt es in dem Werk.
- Hypegier und die Sucht nach ständig Neuem scheint sich in den Führungsetagen etwas abgekühlt zu haben. Nun geht es bei Innovationen für die Befragten der Reuters-Analyse in erster Linie darum, sie gewinnbringend für das eigene Unternehmen zu integrieren. Der Studie zufolge wird 2023 verstärkt in Podcasts oder Digital Audio (72 Prozent) und Newsletter (69 Prozent) investiert.
Vorrangiges Ziel: Mit den bewährten Kanälen Loyalität zu neuen Marken aufbauen. Auch die geplanten Investitionen in digitale Videoformate (67 Prozent) seien im Vergleich zum Vorjahr gestiegen, was vielleicht auf das explosive Wachstum von TikTok zurückzuführen ist. „Dagegen geben nur vier Prozent an, dass sie in das Metaverse investieren werden, was die zunehmende Skepsis gegenüber dem Potenzial für den Journalismus widerspiegelt“, so Nic Newman.
- Die außergewöhnlichen Fortschritte bei der Künstlichen Intelligenz (KI) im vergangenen Jahr haben weitere Chancen und Herausforderungen für den Journalismus aufgezeigt. KI bietet Publishern die Möglichkeit, (endlich) persönlichere Informationen und Formate zu liefern, um der Fragmentierung der Kanäle und der Informationsflut entgegenzuwirken. Medienunternehmen integrieren in aller Stille KI in ihre Produkte, um ein personalisierteres Erlebnis zu bieten. 28 Prozent geben an, dass dies inzwischen ein fester Bestandteil ihrer Aktivitäten ist, weitere 39 Prozent sagen, dass sie in diesem Bereich experimentieren. Neue Anwendungen wie ChatGPT und DALL-E 2 zeigen auch Möglichkeiten für eine effizientere Produktion und die Erstellung neuer Arten von halbautomatischen Inhalten auf.
- Berichtete das Team des Reuters Institute bereits vergangenes Jahr, dass KI unter anderem bei der Bewältigung der Informationsmengen helfen kann, keimen aktuell existenzielle und ethische Fragen auf – zusammen mit mehr Deep Fakes.
- In diesem Jahr sei des Weiteren mit einer „Korrektur in der Kreativwirtschaft“ zu rechnen, heißt es. Während viele kleine journalistische Unternehmen, die auf Substack und anderen Plattformen basieren, durchaus florieren, könnten sich Anbietende auf "Kreativitätsfonds" und ähnliche monetäre Anreize nicht verlassen, um zu überleben. „Kollektive und Mikrounternehmen“ könnten ein neuer Trend für 2023 sein, schätzen die Oxforder.
Das Fazit des Digital News Report 2023
Unsicherheit und eine gewisse Besorgnis prägen dieses Medienjahr. Die Wirtschaftsindikatoren sprechen für weiterhin steigenden Kosten und mehr Druck auf die Ausgaben der Haushalte. Probleme wie Nachrichtenvermeidung und -müdigkeit sind weit verbreitet, während einige soziale Plattformen zu implodieren scheinen oder sich von News abwenden.
In vielen Teilen der Welt werde die wirtschaftliche Schwäche einige Nachrichtenorganisationen noch abhängiger von staatlicher Werbung oder gut vernetzten Eigentümern machen, sagt das Reuters Institute voraus. Andernorts sei mit umfangreichen Entlassungen sowie einer Flut von Fusionen, Übernahmen und Partnerschaften zu rechnen, da die Branche versuche, Kosten zu senken und Werte auf neue Weise zu bündeln.
Die Konsolidierung der Branche schafft manchmal mehr Probleme als sie löst, aber am effektivsten ist es, wenn die Unternehmen versuchen, ein Portfolio von unverwechselbaren und sich ergänzenden Marken zu führen und sich dabei stärker auf bestimmte Publikumsbedürfnisse und Segmente konzentrieren.
Nic Newman, Reuters Institute
Unternehmen, die den digitalen Wandel bereits vollzogen haben und über ein solides Abonnementgeschäft oder diversifizierte Einnahmen verfügen, seien „in der besten Position“, um den Sturm zu überstehen, so das Werk. Entscheidend in den nächsten Jahren sei nicht, wie schnell sich Medienunternehmen der Digitalisierung anpassen, sondern wie schnell digitale Inhalte transformiert würden, um den sich rasch ändernden Publikumserwartungen zu entsprechen.
Die nächsten Jahre dürften demnach eher davon bestimmt sein, wie digitale Inhalte in etwas verwandelt werden können, das für verschiedene Gruppen relevanter und nützlicher sei. In diesem Prozess könnten neue Technologien Verbündete sein, wenn es darum gehe, Inhalte genauer auf die unterschiedlichen Bedürfnisse des Publikums abzustimmen.
Gleichzeitig müsse der Journalismus aber auch seine menschlichen Qualitäten und seine Erfolgsgeschichte bei der Bereitstellung vertrauenswürdiger Inhalte hervorheben, wenn er sich von der Flut automatisierter und synthetischer Medien abheben wolle, die das Internetpublikum zu überwältigen drohe, so der Report.
Die Studienautore:innen geben zugleich eine Warnung aus: Diejenigen, die sich zu sehr auf einen weiteren Erfolg von Printmedien oder die Säule Werbung verlassen, würden "ein paar harte Jahre" vor sich haben.
Der 48-seitige Report „Journalism, Media, and Technology Trends and Predictions 2023“ ist hier abrufbar.
Welche Trends für den deutschen Medienmarkt im Vordergrund stehen, hat ein Event im MedienNetzwerk Bayern – wie die Medientage München ein Unternehmen der Medien.Bayern GmbH – thematisiert.
Eine Übersicht interessanter Einschätzungen für das laufende Jahr ist auch im Medientage-Blog zu finden.
Die Zusammenfassungen wichtiger Panel-Diskussionen sowie Bildmaterial der 36. MEDIENTAGE MÜNCHEN stehen in der Mediathek der Medientage-Homepage und auch im Blog der Medientage bereit.
Die Medienthemen können auch gehört werden: im Podcast der Medientage München.