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Deniz Mathieu: „Wie viel TV ist noch schlau?“

10. Juni 2021

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Angesichts der modernen Bewegtbild-Angebote müssen Planer:innen und Werbekund:innen sich dieser Frage stellen, findet Deniz Mathieu. Die Geschäftsführerin bei pilot  plant Werbung schon seit Jahren plattformübergreifend. Bei der Preview zum Medientage Special „Connect!“ wird sie über die Perspektiven für Advanced TV Advertising sprechen. Welche Dimensionen Advanced TV umfasst, wo die wahre Konkurrenz für TV lauert und warum die neuen AGF-Streaming-Reichweiten ein guter Anfang sind, sagt uns die Mediaexpertin Mathieu im Interview mit dem Blog der Medientage.

 

Frau Mathieu, vor Kurzem wurde die Vergleichbarkeit der Währungen wieder einmal diskutiert, weil die AGF nun Streaming-Hitlisten für TV-Inhalte veröffentlicht. Sie haben Verständnis geäußert für den TV-Markt im Umbruch und die Reichweiten eine „Grundlage für Vergleichbarkeit“ genannt. Heißt das, für Sie ist das ein sinnvolles Werkzeug zur plattformübergreifenden Planung?

Ich freue mich natürlich, dass wir jetzt wenigstens einen gemeinsamen Nenner haben, der über mehrere Silos hinweg geht. Andererseits besteht hier weiter Optimierungsbedarf, weil „eine Sekunde konsekutiv geguckt“ ein sehr kleiner Nenner ist, der noch nicht viel darüber aussagt, was ein wirksamer Kontakt ist. Da müssen alle Beteiligten jetzt nachlegen.

Schön wäre, wenn wir aus diesem kleinsten gemeinsamen Nenner einen substanzielleren entwickeln könnten. Beispielsweise sollte das Ganze perspektivisch noch um mehr als Streaming-Inhalte erweitert werden, also diverse relevante Formate und Werbeformen. Das wird aber noch viel Diskussion erfordern, weil die Interessen der verschiedenen Silos dem aktuell nicht unbedingt entgegenkommen. Es wird also vermutlich eine Mixtur werden, bei der sich Vermarkter, Agenturen und Werbungtreibende ein Stück weit ihre eigenen Lösungsmodelle aufbauen.

Wichtig für effektive plattformübergreifende Planung ist vor allem Transparenz. Darauf basierend können erst Gewichtungssysteme entwickelt, eigene Forschung aufgesetzt oder eigene Tests durchgeführt werden. Wichtig ist, dass klar definiert ist, was ein Kontakt ist. Zum Vergleich: Wenn ich einen Brief abgeschickt habe, ist das schon der Kontakt? Oder erst, wenn er im Briefkasten ist? Oder wenn er im Haus ist?

Mit den AGF-Streaming-Reichweiten haben wir jetzt diesen gemeinsamen Nenner gefunden. Das heißt, wir zählen ausschließlich Kontakte, die tatsächlich im Haus angekommen sind. Welche Frage damit aber noch nicht geklärt ist: Hat sich der Empfänger mehr als eine Sekunde lang mit meinem Brief beschäftigt? Dennoch ist diese neue Art der Messbarkeit schon viel besser als bisherige Methoden, die nur Aussagen darüber treffen können, ob ein Brief abgeschickt wurde.

 

Erleichtert Ihnen das tatsächlich die Vergleichbarkeit, beispielsweise mit Online, mehr als vorher?

Ja. Wenn Online zum Beispiel Video-on-Demand-Flächen genutzt werden, Shortform oder Display, dann spielt die Sehdauer keine große Rolle mehr, weil Zuschauer:innen den Clip jederzeit anhalten, noch mal ansehen, später weiterschauen oder nebenherlaufen lassen können. TV funktioniert bisher so, dass nur Personen gezählt werden, die den vorab definierten Maßgaben entsprechend zum Beispiel mindestens 75 Prozent eines Zeitraums von 10 Minuten wirklich geschaut haben.

Das ist Online zum Teil anders. Wie kann man als Werbungtreibender herausfinden, ob eine längere Nutzung einer Website etwa dazu führt, dass die Werbung dort intensiver betrachtet wurde? Da gibt es im Prinzip nur 0 und 1: Der User, die Userin hat das Werbemittel gesehen oder nicht gesehen. Genauso stellt sich die Frage bei einem 6-Sekünder Bumper-Ad auf YouTube: Wie viel muss ein:e User:in gesehen haben, damit er als gesehen gilt? Selbst wenn man 50 Prozent Sehdauer definiert, bleibt die Frage: Womit ist das vergleichbar? Mit einem 30-Sekunden-Spot im Fernsehen, von dem ich dann 15 Sekunden gesehen haben muss?

Deswegen ist die eine Sekunde erst mal eine gute Grundlage für die Vergleichbarkeit.

 

Sind die Nettoreichweiten ein weiteres Element, um bisher zurückhaltende Werbekund:innen für beispielsweise Connected TV oder Advanced TV Advertising zu gewinnen?

Eigentlich sind die Kunden gar nicht so zurückhaltend. Es ist ein Ringen: Wie viel TV ist noch schlau? Wie viel bricht an wirksamer Reichweite tatsächlich weg? Da gibt es noch sehr viel Intransparenz, und alles, was dabei hilft, diese Intransparenz aufzulösen, schafft Sicherheit. Ob das dann zwangsläufig bedeutet, aus dem klassischen linearen Spot-TV rauszugehen und mehr Werbung in onlinebasiertes Bewegtbild oder andere Anbieter- und Broadcaster-Systeme zu buchen, lässt sich nicht pauschal beantworten.

Wir bei pilot schauen ohnehin aus einem anderen Blickwinkel auf die Thematik, weil wir schon seit 2010 DoublePlay nutzen. Diese Diskussion um Nutzungswahrscheinlichkeiten Online, die die AGF gerade führen muss, ist bei uns also schon elf Jahre alt. Wir haben mit DoublePlay einen hochgradig granularen Planungsdatensatz zur wirkungsvollen Aussteuerung des Mediabudgets sowohl auf TV als auch in Kombination mit Online-Bewegtbild und -Display. Quer über alle relevanten Vermarkter und Angebote inklusive der Walled Gardens wie Facebook oder YouTube entstehen so fein ausgesteuerte und sehr effiziente Reichweiten-Kampagnen.

 

Um klarzumachen, worüber wir hier genau sprechen und worum es bei Ihrem Vortrag gehen wird: Was ist Advanced TV?

Das ist ein schöner Punkt, denn die Grenzen verschwimmen gerade total. Man kann aus verschiedenen Blickwinkeln schauen, was „Advanced“ und was „TV“ ist: Ist TV „Big Screen“? Dann wird vor allem technologisch der Blick auf den großen Bildschirm gelegt. Oder ist „TV“ der „TV-Content“, also produktionsseitig betrachtet das Material, das für TV produziert wird? Wobei hier auch meist das lineare Free-TV als erste Anlauffläche gemeint ist, dann aber schließlich der Content doch über alle Screens und Nutzungssituationen hinweg konsumiert wird. Oder ist „TV“ das lineare Fernsehen? Aber was ist dann mit Video-on-Demand (VoD)?

Technologisch und datentechnisch entsteht „Advanced TV“ auf der Ansprache-Seite, unter anderem mit ATV (Addressable TV), das wie ein Layer auf dem linearen Free-TV liegt, es aber erlaubt, in eine One-to-One-Kommunikation zu gehen. Wenn zum Beispiel Hbb-Daten Auskunft darüber geben, wie viele Haushalte andere Inhalte geguckt haben oder welche Optionen zur Wiederansprache von Zuschauer:innen existieren, das sind wunderbare neue Chancen für wirkungsvolle Mediaplanung.

Hinzu kommt die Dimension Qualität: Streaming-Dienste und neue Spartenkanäle liefern eine wahre Flut an qualitativ hochwertigem Content. Zugegebenermaßen ist es aber schwierig, an all diese Inhalte werblich ranzukommen. Da ist dann Kreativität gefragt.

Und nicht zuletzt ist beeindruckend, welche neuen Player mittlerweile auf dem Markt sind: von Twitch über Rocket Beans TV und Magenta TV bis hin zu Xbox. Diese Fülle an Broadcastern und Publishern, auch das ist „Advanced“. Wir müssen uns fragen, wie wir damit umgehen und wen diese Anbieter erreichen. Der ganze Longtail zum Beispiel erzielt Marktanteile, die die ARD locker in die Ecke stellen – und zwar immerzu. Das operationalisierbar zu machen, in den Plänen auftauchen zu lassen, da steckt auch noch „Advanced“ drin. Vor allem für die Mediaplanung im Hinblick darauf, nicht in der Flut der Möglichkeiten unterzugehen.

Sofa, Wohnzimmertisch, Fernbedienung, altarmäßig aufgebauter Fernseher – das war Fernsehen. So ist das heute nicht mehr.
Deniz Mathieu, pilot

 

„Advanced“ also als „Mediaplanung für sehr Fortgeschrittene“, weil alles schwer einzugrenzen ist und die Zielgruppen überall sind?

Das glaube ich gar nicht, weil wir eine höhere Identifizierbarkeit des Aufenthaltsortes und der Kontaktfähigkeit der Zielgruppe haben. Aber man muss sich genau angucken: Wie valide ist die Kennzahl?

Da sind wir wieder beim kleinsten gemeinsamen Nenner: Ist das etwas, was per statistischem Verfahren angenommen wird aus dem Verhalten der Person in der Vergangenheit, oder ist das wirklich eine valide gemessene, etwa aus einem Panel kommende Information zu Geschlecht und Alter oder Lebenssituation?

Das führt zu einem Umbruch und es wird uns noch beschäftigen, das operationalisierbar zu machen. Die nächste Aufgabe wird sein, dieses „Advanced TV“ für die Kund:innen transparent und verständlich zu machen, Lösungen und Wege anzubieten, Währungen und Verfahren und auch Einordnungssysteme anzubieten, die es leicht machen, das Feld zu erschließen.

Die Frage „Was ist Advanced TV?“ lässt sich also gar nicht so einfach beantworten, weil es auf so vielen verschiedenen Ebenen „advanced“ ist. Und das ist großartig.

Zum klassischen TV hatten wir früher alle die gleiche Nutzungssituation vor Augen: Sofa, Wohnzimmertisch, Fernbedienung, altarmäßig aufgebauter Fernseher, davon gab es eine Zweigstelle im Schlafzimmer – das war Fernsehen. So ist das heute nicht mehr.

Wir brauchen also auch erst mal die Einigkeit über die Benennung. Wir können uns gern darauf einigen zu sagen: TV Content, linear ausgespielt auf dem Big-Screen, ist klassisches TV. Und wenn wir nun von „CTV“ (Connected TV) sprechen, dann heißt das nur: Ich habe einen Big Screen, der in irgendeiner Form mit dem Internet verbunden ist. Mehr ist CTV nicht. Was dann auf diesem Big Screen passiert, wird davon nicht erfasst.

 

Das klassische, lineare TV ist ja immer noch das, was Zuschauer:innen überwiegend gucken, auch wenn sich die vor dem Gerät verbrachte Fernsehzeit verlagert. Was muss denn die Fernsehbranche tun, um fit für die Zukunft zu werden?

Ich glaube, die sind schon auf einem guten Weg, sich zumindest schon mal die Content-Hoheit zu erhalten und dort wettbewerbsfähig zu sein. Die Crux liegt darin, Reichweiten aufzubauen für ein TV NOW oder ein Joyn, die können es mit US-Anbietern noch nicht aufnehmen. Sie müssten sich idealerweise gemeinsam überlegen, wie man noch stärker Reichweiten generiert, um das Feld nicht den großen US-Playern zu überlassen.

Es geht jetzt darum, Claims abzustecken, aber dabei nicht selbst zum Walled Garden zu werden und zu versuchen, jeder für sich allein die Herausforderung anzugehen. Vielleicht sollten sich die Medienkonzerne hier noch mehr zusammentun. Die Initiative D-Force zum Beispiel ist ein guter Anfang, aber hat noch nicht genug Biss und Entschlossenheit, nicht den konsequent durchgehenden politischen Schulterschluss dahinter.

 

Heißt das, deutsche Anbieter sollten in der Vermarktung, bei Inhalten und Plattformen mehr zusammenarbeiten?

Wenn es jeder einzeln versucht, und dafür habe ich politisch und vielleicht auch noch akut kaufmännisch totales Verständnis, dann wird das am Ende nicht zukunftsfähig sein. Es reicht nicht, einfach zu sagen „Wir sind ein relevanter Player, wo die Kampagnen platziert werden müssen“. Die Wettbewerbssituation ist härter geworden, nicht nur bei Bewegtbild.

Die Konkurrenz von TV ist groß: In Kanälen wie Social mit zum Beispiel Instagram-Shopping-Themen, Shoppable Videos, im Digital Retail von Amazon bis Otto können Marken direkt vom Branding-Inhalt in den Sales-KPI gehen. Marketing ist nicht nur im TV fragmentiert und das setzt das ganze Thema klassische Budgetverteilung, wie Branding TV, unter Druck.

Vermarkter, die vor allem den Bereich TV bedienen, müssen sich überlegen, wer sie sind – Multi-Marketing-Channel-Plattform oder ausschließlich TV und wie viel Wirkung sie wo im Funnel des Werbekunden erzeugen.

 

Zur Person:

Deniz Mathieu ist Geschäftsführerin bei der Mediaagentur pilot und verantwortet gattungsübergreifend das Angebot in Planung und Umsetzung. Mathieu zählt seit 1999 zu den Gründungsmitgliedern der Agenturgruppe und damit zu den Vorreitern für digitales Marketing, dynamische Prozesse und Kampagnenplanung in der Branche.
Zu Beginn ihrer Karriere war die Planungsexpertin im Bereich der klassischen Mediaplanung bei HMS Carat Hamburg sowie auf Verlagsseite tätig. Zu ihren besonders hervorzuhebenden Entwicklungsthemen zählen Doubleplay, integrierte Planungen Online–Offline und neue datenbasierte Kampagnenkonzepte mit Wirkungsnachweis. 

 


Smart TV, Streaming, Addressable TV: Bei dem Online-Special Connect! The Future of TV am 24. Juni 2021 widmen sich die MEDIENTAGE dem Thema Connected TV und dem vernetzten Fernsehen.
pilot-Geschäftsführerin Deniz Mathieu wird auf der Online-only-Preview über die Zukunft der TV-Werbung sprechen. 

 

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Mit einem ausführlichen Programm in Zusammenarbeit mit unseren Partnern MEKmedia und der Deutschen TV-Plattform wird das MEDIENTAGE Special Connect! The Future of TV Ende Oktober Teil der MEDIENTAGE MÜNCHEN sein. Dort wird dann auch zum zweiten Mal der Connect! The Smart TV Award verliehen.


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