Sie nennen sich „streamende Broadcaster“, die Senderfamilien mit Mediatheken-Anhang. Inzwischen hat im Prinzip jeder TV-Anbieter ein BVoD-Angebot zur Seite (Broadcaster Video on Demand), um innerhalb des eigenen Reichs das Abwandern von Publikum und teils auch Werbeklientel in Online-Bewegtbild abfangen zu können. Die Rechnung geht auf: Während die eine Säule schrumpft, wächst die andere stabil.
Sowohl der Online Video Monitor der Medienanstalten BLM und LFK als auch die ARD ZDF Onlinestudie haben in ihren letzten Ausgaben im Herbst 2023 den anhaltenden Trend der Zuschauenden hin zu Video im Netz dokumentiert.
Zuletzt belegte die Jahresbilanz 2023 der AGF Videoforschung eindrücklich, wie die lineare TV-Nutzung weiter zurückgeht, während die Zugriffe auf Streams weiter steigen. Das einst für die kontinuierliche Reichweitenmessung im Fernsehen zuständige Unternehmen AGF dokumentiert seit geraumer Zeit auch Streaming. Vor allem die Mediatheken der AGF-Gesellschafter werden dabei gemessen. Neuerdings wird auch das Sport-Streaming-Angebot von DAZN gelistet, das sich seit Dezember der AGF-Ausweisung unterzieht.
Mehr Nutzung insgesamt und auch mehr AGF-Klientel: Das schlägt bei der Jahresbilanz zu Buche. 2023 hatten insgesamt 64,227 Millionen Personen mindestens einmal Kontakt mit einem Streaming-Angebot der Publisher. Das entspricht 81,4 Prozent der Bevölkerung. Die durchschnittliche Sehdauer steigerte sich um 20 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Sie lag 2023 bei durchschnittlich fünf Minuten pro Tag (2022: vier Minuten), sowohl bei den Zuschauenden ab drei Jahren als auch bei den 14- bis 49-Jährigen.
Auch dank Integration und Ausweis weiterer Plattformen werden sich die Reichweitendaten künftig noch stärker in Richtung Stream entwickeln. AGF-Geschäftsführerin Kerstin Niederauer-Kopf: „Bereits jetzt sehen wir, dass – aufgrund der digitalen Herkunft der Plattform – beispielsweise die Bundesligaübertragungen von DAZN im Video-Streaming deutlich mehr Menschen als über den klassisch linearen Ausspielweg erreichen und damit den Streaming-Anteil im AGF-System erhöhen.“
Für DAZN hatte der Schritt wichtige Gründe: Die Ausweisung der Zuschauerzahlen im anerkannten AGF-Standard war für den Sport-Streamer der nächste Schritt für eine erfolgreiche Werbevermarktung des Angebots.
Beliebte TV-Marken überzeugen in Mediatheken
Dass immer mehr Menschen statt TV auf Streaming und BVoD setzen und dank ihrer zunehmend vernetzten, smarten TV-Geräte in die Mediatheken switchen, dokumentieren die Senderfamilien mit konkreten Beispielen. So erzielt der Dauerbrenner der deutschen TV-Community, der „Tatort“ der ARD, auch in der ARD Mediathek Höchstwerte. Im Schnitt registrierte das Team des Ersten für neue Filme aus der Krimi-Reihe im vergangenen Jahr 14 Tage nach Veröffentlichung mehr als eine Million Abrufe pro Folge (1,02 Millionen). „Der ‚Tatort‘ zählt damit zu den erfolgreichsten Reihen im deutschen Fernsehen und in der ARD Mediathek“, teilte das Erste mit.
Mit der Headline „Starker Januar für RTL, Rekordmonat für RTL+“ jubelt sich aktuell die Kölner Senderfamilie mit ihren werbefinanzierten Angeboten in TV und Netz ins neue Jahr. Auffallend ist, wie gut bewährte Fernsehmarken in der Mediathek funktionieren: So war die Dschungelshow „Ich bin ein Star – Holt mich hier raus!“ im Januar das reichweitenstärkste Programm; die Auftaktfolge erreichte mit 5,31 Millionen Zuschauer:innen beim Gesamtpublikum ab 3 Jahren den „besten Wert einer IBES-Auftaktfolge seit 2020“.
Daneben holten die Kölner dank „IBES“ am 28. Januar einen neuen Tagesrekord bei den Abrufzahlen von RTL+. Dabei hilfreich ist wohl auch die Programmstrategie, mehr Originäres wie das neue RTL+ Dating-Format „Love Fool“ per BVoD ans Publikum zu bringen. Laut den Kölnern hatte der Streaming-Dienst im Januar "so viele Sendungsstarts wie noch nie" gezählt.
Neue Ära der Bewegtbild-Währung
Die AGF trägt der Entwicklung seit Jahresstart Rechnung: Zum 1. Januar 2024 wurde flächendeckend auf den bereits bestehenden Marktstandard Bewegtbild umgestellt – auch bei den klassischen TV-Analysen. Mit dem Wechsel werden die endgültigen TV-Daten plus die Zugriffsdaten auf die identischen 24/7-Livestreams acht Tage nach der linearen Ausstrahlung insgesamt ausgewiesen.
Der nun ermöglichte Vergleich der Daten erlaubt das Identifizieren von Tendenzen, beispielsweise im Bereich Sport oder Shows. Per Stream kann auch „live“ über ein mobiles Endgerät, beispielsweise per Smartphone, mitgefiebert werden. AGF-Managerin Niederauer-Kopf betont: „Auch wenn der Big Screen nach wie vor der relevanteste Bildschirm ist, so zeigt die zusätzliche Nutzung durch den 24/7-Livestream gerade bei Sportevents, dass diese Nutzungsform durch den Aktualitätsbezug an Relevanz gewinnt – daher umso wichtiger, dass die AGF dies in den Standards berücksichtigt.“
Ein Beispiel: Die Live-Übertragung der Partie Deutschland – Kolumbien bei der Fußball-WM der Frauen am 30. Juli 2023 erzielte insgesamt eine durchschnittliche Sehbeteiligung von 10,5 Millionen beim Gesamtpublikum. 10,374 Millionen Fans entschieden sich laut AGF für die klassisch lineare TV-Nutzung, 0,18 Millionen waren dank des inhaltsgleichen 24/7-Livestreams in der ARD Mediathek dabei. Andere Genres profitieren dagegen sehr stark von der Möglichkeit, jederzeit abgerufen werden zu können: „Bei fiktionalen Formaten – insbesondere Long-Form – ist die zeitsouveräne Nutzung ein wichtiges Key Asset, das sich auch in der steigenden VoD-Nutzung widerspiegelt“, erklärt Kerstin Niederauer-Kopf.
Was wird aus der Idee des Super-Streamers?
Das Konzept Mediathek geht für TV-Anbieter auf. In einem nächsten Schritt wird hierzulande gerade darüber diskutiert, ob und wie ein „Super-Streamer“ aufgebaut werden kann, der im Prinzip die über lange Jahre bekannte Vielfalt über Kabel, Satellit und Antenne auch im Netz darstellen könnte.
Die öffentlich-rechtlichen Sender ARD und ZDF haben ihre werbefreien Mediatheken im vergangenen Herbst bereits verschränkt und führen das Wort „Partnerschaft“ im Munde. Sie tun sich aufgrund des Werbebanns im Internet, das für Öffentlich-Rechtliches gilt, naturgemäß schwer mit weitergehenden BVoD-Kooperationen mit kommerziellen Anbietern.
Angeschoben hat die Idee unter anderem ProSiebenSat.1-CEO Bert Habets, dessen Konzern in Österreich über das eigenen Streaming-Angebot Joyn einen Super-Streamer aufbauen konnte. Mit Erfolg: Alle relevanten Sender der Alpenrepublik steuern ihren Teil fürs gemeinsame BVoD bei, inklusive ORF, der anders als die öffentlich-rechtlichen deutschen Verwandten ARD und ZDF im Netz werben darf.
Weitere werbefinanzierte TV-Streams ergänzen ab sofort Joyn in Österreich: „Nach 2023 mit einem Wachstum auf +80 Sender und über 1 Mio. monatlich aktiven Nutzer:innen, gibt’s im Joyn Universum neue internationale Channels ab 2024“, teilt das ProSiebenSat.1-Unternehmen mit. Neu hinzu kommen sechs Live-Sender aus dem Portfolio des einstigen Joyn-Partners Warner Bros. Discovery wie Tele 5, CNN und Eurosport.
Deutlich wird: Die Senderfamilien forcieren damit selbst den Wechsel in die Mediatheken.
Hosentaschenfernsehen vs Big Screen: Wie gucken und streamen wir künftig? Welche Trends setzen sich durch? Welche Werbe- und Business-Modelle sichern zukunftsfähige Content-Strategien fürs (vernetzte)TV, für den Stream, Video on Demand oder auch für Social Video? Welche Player haben mit ihren Technologien und Anwendungen das Sagen? Und wer sind die Gatekeeper von morgen? Und wie sehen die TV-Strategien der streamenden Broadcaster aus?
Antworten auf diese Fragen gibt das #MTM SPECIAL FUTURE VIDEO 2024. Die Konferenz findet am 24. April 2024 im House of Communication in München statt und widmet sich der Zukunft von Video: ein Tag mit Insights von namhaften Branchenexpert:innen und wegweisenden Konzepten von Unternehmen aus der Bewegtbildwelt.
Interessiert an Themen rund um die Medienbranche? Dann ist hier im Blog der Medientage München noch mehr Lesenswertes zu finden.
Zudem können Medienthemen auch gehört werden: im Podcast der Medientage München.
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