Streaming und Connected TV haben den Fernsehmarkt komplett umgekrempelt. Nun zeichnet sich die nächste Disruption ab: Was kommt, was geht, was bleibt – ein kurzer Überblick über die 2023er-Trends der expansiven Welt des Bewegtbilds.
Inhalte nach Wahl, jederzeit und überall verfügbar: Das Streaming-Angebot hat das Sehverhalten in der letzten Dekade komplett auf den Kopf gestellt. Die Bewegtbildbranche schien verteilt und stabil. Doch derzeit erlebt sie weitere deutliche Veränderungsprozesse. Diese sind nicht allein technikgetrieben, sondern auch als Reaktion auf das heutige Konsumverhalten zu verstehen, zusätzlich geschürt durch weltweite Krisen.
Zu den Entwicklungen, die sich auf dem Bewegtbildmarkt beobachten lassen, gehören daher neue Wege, aber auch das Comeback altbekannter Marktgesetze.
Wie haben wir die werbefreien, flexiblen und hochwertigen Angebote gefeiert! Filme und Dokus schauen, wann wir wollen und ohne Unterbrechung. Serien am Stück bingewatchen, ohne eine Woche auf die Fortsetzung warten zu müssen. Für den Lieblingskrimi nicht bis 23 Uhr wachbleiben zu müssen – und den Blockbuster auch mal um 17 Uhr zu schauen, statt auf die Primetime um 20.15 Uhr warten zu müssen. Streaming bot Vielfalt, Flexibilität und hohe Qualität.
Nur: Flexibilität bieten inzwischen alle, die vormals linearen Sender haben mit Mediatheken nachgelegt. „Was ich will, wann ich will“ ist Standard geworden und kein Alleinstellungsmerkmal mehr.
Die Programmqualität allerdings nimmt bei den vormaligen Revulotionären nicht mehr zu: Die wachsende Zahl der Anbieter hat nur kurzfristig dazu geführt, dass die Produktionen sich mit inhaltlicher und technischer Brillanz von der Masse abgehoben haben. Heute führt der Konkurrenzdruck dazu, dass Serien, Dokus und Filme am Fließband veröffentlicht werden. Der ursprüngliche Ansatz der Streamer von Amazon Prime bis Netflix, viele Nischen machen auch Masse, scheint sich zu Gunsten austauschbarer Massenware aufzulösen. Die Angebote sind kaum noch unterscheidbar.
Weil der Wettbewerb außerdem dazu führt, dass sich die (stagnierenden) Umsätze mit abofinanziertem Streaming (SVoD) auf viel mehr Anbieter verteilen, steigt der Kostendruck – Qualität hat aber, die Binsenweisheit stimmt, ihren Preis. Nach und nach wird bei den einzelnen Produktionen gespart und oftmals stattdessen in die Menge gepumpt. Gleichzeitig steigt der Zeitdruck auf Drehbuchautor:innen und Produzent:innen, weil immer schneller neue Inhalte geliefert werden müssen.
Die logische Folge: Die SVoD-Streamer büßen bei einem ihrer größten Verkaufsargumente, der Qualität, ein. Das schlägt sich in den Abo-Zahlen nieder.
Die Marktanteile der großen SVoD-Anbieter steigen nicht mehr, die der kleineren wachsen auf niedrigem Niveau. Quelle: JustWatch.
Die sinkende Qualität auf der einen Seite und der Kostendruck auf der anderen führen dazu, dass die Werbefinanzierung plötzlich wieder viel Aufmerksamkeit erhält.
Werbeunterbrechungen waren in den Goldenen Zeiten des Streamings verpönt, galten als zu überwindendes Konzept aus dem bemitleideten klassischen, linearen Fernsehen. Inzwischen ist ein Umdenken zu beobachten, sowohl auf Seiten der Programmanbieter als auch der Zuschauer:innen.
Bei Letzteren deutet sich eine wachsende Akzeptanz für Werbefinanzierung an. Noch auch niedrigem Niveau, aber mit steigender Tendenz. Ein Grund ist die oben erwähnte Qualität: Die Nutzer:innen haben mehr und mehr das Gefühl, die Inhalte seien den Abopreis nicht mehr wert.
Laut Studie von Goldbach Germany ist Werbung ok, wenn Inhalte nichts kosten.
Angesichts aktueller Krisen und Preissteigerungen erhält diese Überlegung der Verbraucher:innen ein noch stärkeres Gewicht als vor dem Beginn des Kriegs in der Ukraine. Die Bereitschaft, ein Streaming-Abo zu kündigen, steigt, die Zahlungsbereitschaft sinkt. Werbefinanzierte Angebote bieten einen Ausweg aus dem Dilemma, das in schwereren Zeiten aus dem Preisbewusstsein einerseits und dem Bedürfnis nach Unterhaltung und Entspannung andererseits entsteht. In den USA plant laut "Cordcutting-Report" inzwischen jede:r vierte Abonnent:in, mindestens eins von mehreren Abos zu kündigen.
Die Anbieter wiederum, allen voran Amazon Prime und Netflix, haben die heilige Kuh Werbefreiheit bereits 2022 geschlachtet). Auf der Suche nach zusätzlichen Einnahmequellen und unterstützt von den verbesserten technischen Möglichkeiten spielt nun werbefinanziertes Video-on-Demand (AVoD: Ad-supported VoD) eine große Rolle. Zugleich bietet das den Streamern die Chance, in einem gesättigten Markt die sinkenden Abo-Erlöse zu kompensieren. Denn die Marktanteile vor allem der großen Player bröckeln bereits.
Das klassische Fernsehen schließt hieran an, Connected TV sei Dank: Mit Free-Ad-Supported TV (kurz: FAST) wandert das bekannte deutsche Prinzip des werbefinanzierten linearen Spartensenders auf die vernetzen TV-Geräte.
Krisen, Komplexität und Konnektivität helfen dem Fernsehen. Für lineare Angebote der zahlreichen deutschen Sender ist das eine sehr gute Nachricht. Viele Male schon wurden sie totgesagt, der internationalen Streaming-Konkurrenz und Qualitätsoffensive scheinbar nicht gewachsen. Doch erweisen sich die nationalen Angebote als sehr robust.
Sie haben außerdem bewiesen, dass sie sich an neue Marktgegebenheiten anpassen können und die Vorteile des klassischen Fernsehens mit den neuen technischen Möglichkeiten und Ansprüchen der Zuschauer:innen vereinen können.
Das vorübergehende Wachstum des Fernsehens während der Pandemie ist danach nicht nachhaltig eingebrochen, der Krieg in der Ukraine hat die Relevanz von klassischem und Live-TV erneut gestützt. Vor allem, was solide Information, Nähe und Relevanz, Sport- und Live-Veranstaltungen angeht, sind sie für viele Zuschauer:innen unverzichtbar.
Dazu sind die Angebote kostenlos, weil werbefinanziert. Und diese Erlössäule ist und bleibt laut PWCs „German Entertainment & Media Outlook 2022-2026“ recht stabil bei rund 4,4 Mrd. Euro brutto im Jahr.
Dazu trägt neben den Personalisierungsmöglichkeiten für Werbung durch Addressable TV die Personalisierung der Kanäle bei. Die Zahl der Anbieter nimmt auch hier zu und umfasst etablierte Sender ebenso wie neue Plattformen. Die Zuschauer:innen haben die Wahl zwischen (unter anderem) DMAX, Crunchyroll, Freevee (Amazon), Joyn (ProSiebenSat.1), Popcorntimes, LG Channels, Netflix Basis-Abo mit Werbung, Netzkino, Pluto TV, Rakuten TV Free, Rlaxx TV (Foxxum), RTL Plus, Samsung TV Plus, Wakanim, Waipu.tv, Zattoo. Alles AVoD und FAST, also werbefinanzierte Angebote, die klassisches Programm mit den Möglichkeiten des Smart TV vereinen. Und den Zuschauer:innen den Überblick im überwältigend großen Inhalte-Angebot erleichtern.
Werbung ist hier sogar beliebter als die im guten alten klassischen Fernsehen und wird auch lieber bis zu Ende geschaut, so die Studie "Advertising Engagement auf verschiedenen Plattformen" von Samsung Ads.
Addressable TV wiederum nutzt nicht nur den Sendern, sondern auch den Werbekunden: In mehreren Studien wiesen die Vermarkter nach, dass genauer auf die Zuschauer:innen zugeschnittene Werbung bei den Verbraucher:innen besser ankommt, sie sich besser daran erinnern und auch Akzeptanz und Markenwahrnehmung steigen (El Cartel und Mediaplus, "The Power of Addressable TV"). Die Nachfrage nach diesen Werbeformen wird als bei den Unternehmen weiter steigen – und die Programmanbieter folgen dem Geld.
Die Freiheiten, die mit dem Streaming kamen, wollen die Nutzer:innen behalten: Jenseits von Nachrichten und Live-Inhalten werden sie schauen, wann und wo sie wollen. Smart TV macht’s möglich, mit den erwähnten personalisierten Kanälen und den Alternativen zum teuren Abo.
Nach wie vor ist das große Gerät im Wohnzimmer der Hauptzugang – aufgrund der Zugänglichkeit von Internetanschluss und nutzerfreundlichen Apps wird das so bleiben, für den Konsum unterwegs oder nebenbei ergänzt durch Mobiltelefon und Tablet. Screens finden sich überall.
Inzwischen sind fast alle Fernsehgeräte smart – und überwiegend auch mit dem Internet verbunden (Quelle: Goldbach Germany).
Zu den Opfern dieser Entwicklung gehören mitnichten, wie bislang oft angenommen, klassische Fernsehstationen, sondern die bisherigen Empfangswege: Satellit, Kabel, Antenne werden vom Internetzugang abgelöst.
Das Tor vom Smart TV in die große Welt der Unterhaltung, des Sports, der Nachrichten stellen Apps dar, zeigt die Studie von Goldbach Germany.
Fernsehen ist nicht tot, Fernsehwerbung ebenfalls nicht – nur heute ganz anders. Wer sich mit dem Markt verändert und beweist, dass er auf die Stimmung der Nutzer:innen achtet, kann sich in einem hochkomplexen Markt behaupten. Dazu gehört die vermeintlich flache und gern mal verdrängte Erkenntnis, dass Qualität sich am Ende durchsetzt. Und die Tatsache, dass Fernsehen vernetzt ist und erst mal bleiben wird.
Das erfordert auf Seiten der Anbieter neue Ideen für Preis- und Erlösstrukturen ebenso wie Übersicht, Zugänglichkeit und Individualisierung.
Streaming, Connected TV, AVoD, FAST, OTT, Addressable TV, Social TV: Viele Facetten prägen den dynamischen Bewegtbild-Kosmos. Doch welche Trends, Business-Modelle, Content- und Media-Strategien setzen sich durch? Welche Technologien, Anwendungen und Player geben künftig den Ton an? Wie nutzen wir im Jahr 2030 den großen Bildschirm?
Diese Fragen stehen im Mittelpunkt des neuen #MTM SPECIALS FUTURE VIDEO 2023. Die Konferenz findet am 16. Mai im Münchner House of Communication statt und widmet sich der Zukunft von Video. Ein Tag mit spannenden Branchenexpert:innen und interessanten Einblicken in die Maschinenräume der Bewegtbildkonzerne.
Mehr Informationen sind hier zu finden.
Die Zusammenfassungen wichtiger Panel-Diskussionen sowie Bildmaterial der 36. MEDIENTAGE MÜNCHEN stehen in der Mediathek der Medientage-Homepage und auch im Blog der Medientage bereit.
Die Medienthemen können auch gehört werden: im Podcast der Medientage München.