Der Convergence Monitor 2019 des Marktforschungsunternehmens Kantar bringt es auf den Punkt: "Bewegtbildnutzung erreicht sehr hohe Nutzungswerte durch die Kombination klassischer und neuer Angebote". Die umfangreiche Analyse des deutschen Videomarkts orientiert sich nicht allein am Übertragungskanal oder an der Art des Bildschirms, über den Bewegtbild geschaut wird. Klassische TV-Anbieter mischen längst im Streaming mit. YouTube drängt immer mehr auf den großen Bildschirm. Auf Abruf gibt es Netflix ebenso wie Vox-Serien. Fernsehen schwindet über den geübten linearen Weg – kann die Gattung zum relevanten Online-Medium werden?
Gleich mehrere aktuelle Untersuchungen zeichnen ein ähnliches Bild der Bewegtbildlandschaft. Zunächst aber das Kantar-Werk: Der Convergence Monitor 2019 führt das Plus an Internetnutzungsdauer in diesem Jahr vor allem auf das Mehr an Usern zurück, die mediale Angebote nutzen – und hier vor allem Audio und Video.
"Der Anteil der Videonutzung an der Internetnutzung stieg im Vergleich zum Vorjahr nochmals und liegt mit 27 Prozent aktuell auf einem Höchststand. Bei den 14- bis 29-Jährigen ist der Anteil der Videonutzung an der Internetnutzung mit rund einem Drittel über die Altersgruppen hinweg am höchsten", heißt es in der Analyse.
Inzwischen nutzt fast jeder Vierte die Angebote der Fernsehsender mindestens einmal im Monat, verstärkt auch auf dem "Big Screen", dem klassischen TV-Bildschirm. "82 Prozent der Personen, die Internet mit ihrem Smart-TV-Gerät nutzen, sehen damit mindestens einmal im Monat kurze Videos, Filme oder Serien über das Internet. Das entspricht einem Zuwachs von 24 Prozent innerhalb eines Jahres", fasst Kantar die Entwicklung in der Bewegtbildnutzung zusammen.
Für den Convergence Monitor führen die Marktforscher jährlich im gemeinsamen Auftrag des ARD-Vermarkters AS&S, Discovery und der Mediengruppe RTL Deutschland persönlich-mündliche Interviews (CAPI) durch. Dieses Jahr wurden 1624 Personen zwischen 14 und 69 Jahren zwischen April und Juni 2019 befragt.
Deutsche Medienhäuser sollten handeln!
Weniger positiv, dafür umso drängender richtet sich Roland Berger mit einer Prognose an die Gattung: TV wird gegen Netflix verlieren, daher müssen sich Medienhäuser neue Geschäftsmodelle überlegen. So lautet die Zusammenfassung dessen, was die Unternehmensberatung gemeinsam mit der Westfälischen Wilhelms-Universität kürzlich preisgegeben hat.
Die Frage "Quo Vadis, deutsche Medien?" beantwortet für das Roland-Berger-Team dessen Medienexperte Niko Herborg: "Im Streaming-Bereich haben die Sender in den vergangenen Jahren den Anschluss verloren: Amerikanische Dienste dominieren heute den deutschen Markt - und gefährden in Zukunft das Überleben der linearen TV-Sender."
Seine Aussage stützt sich auf folgende Zahlen:
- Nur noch knapp die Hälfte der Sehzeit der Deutschen gehört dem klassischen TV (54 Prozent).
- 10,3 Prozent Sehanteil geht an Netflix – mehr, als an irgendeinen linearen Sender.
- Wer jung ist, guckt on Demand. Zu den Top-5-Anbietern von audiovisuellen Inhalten finden sich bei jungen Zielgruppen mit YouTube und Amazon zwei US-Streaming-Dienste.
- Zwei Drittel der Deutschen streamen demnach inzwischen. Besonders beliebt (28 Prozent) ist Netflix.
- Interessant: Nicht deutschen Mediatheken räumt die Analyse gute Chancen im deutschen Online-Video-Markt ein, sondern den Streamingplänen von Disney und jenen von Warner/HBO.
Als Unternehmensberatung hat Roland Berger naturgemäß auch Tipps parat, wie sich die deutsche TV-Branche aufzustellen hat. Drei Szenarien hält das Team parat:
- der Rückzug aus dem Markt; das TV-Geschäft wird dabei sukzessive und mit Profit abgestoßen
- der radikale Wandel des Geschäftsmodells; im Gegenzug muss ein völlig neuer Geschäftsbereich erschlossen werden
- die umfassende Transformation des Geschäfts; dieses Szenario ist mit hohen Kosten verbunden
Ein Rat kommt von den Co-Studienautoren der Westfälischen Wilhelms-Universität: Die Sender sollten sich an Netflix orientieren.
In einer aktuellen und repräsentativen Studie der Hochschule Fresenius und des Wissenschaftlichen Instituts für Infrastruktur und Kommunikationsdienste GmbH (WIK) legen die Wissenschaftler Anna Schneider und René Arnold den Sendern darüber hinaus nahe, Inhalte stärker am mobilen Medienkonsum auszurichten. "Wie der Erfolg von TikTok und IGTV belegt, funktionieren hier insbesondere kurze Inhalte, die von Anfang an im Hochformat produziert wurden", heißt es in dem Werk "TV or not TV? Streamingdienste in Deutschland". Gerade öffentlich-rechtliche Sender könnten über das Smartphone "ihre lokale Stärke und das Vertrauen in ihre journalistische Arbeit ausspielen". Die Autoren empfehlen lokale Kurznachrichten und exklusive Produktionen für das Smartphone.
Oder ist "Superaggregation" eine Lösung?
Dahinter steckt die Idee eines neuen Bewegtbild-Ökosystems, bei dem alle Services (Free-TV, VoD, SVoD, Pay-TV, Mediatheken), alle Inhalte auf einer Plattform gebündelt und auf alle Endgeräte ausgespielt werden. Die Wiener Firma Convergent Media Consulting hat die Marktstudie "Nächster Halt: Superaggregation" erstellt. Darin werden auch die Marktchancen der aktuellen Streaminggewinner auf lange Sicht hinterfragt und aufgezeigt, dass die klassischen TV-Anbieter durchaus in der Lage wären, durch kluge Schachzüge und gemeinsames Vorgehen zu einem gefragten Online-Medium zu werden.
Die Österreicher halten fest: "Superaggregation erfordert sowohl neue Strategien, Prozesse, Geschäfts & Lizenzmodelle für alle Elemente als auch ein Umdenken auf Seiten der Wettbewerbs- & Medienbehörden."
Denkanstöße in Richtung neuer Plattformen dürfte es beim Europatag der MEDIENTAGE MÜNCHEN 2019 geben. Dort wird am 25. Oktober unter dem Motto "Let's create the rules for the digital world that Europe deserves" über Schritte hin zu einem nachhaltigen pluralistischen Mediensystem diskutiert.
In der Konferenzschiene TV & Streaming werden an Tag 1 und 2 zahlreiche Workshops auf die Veränderungen im Bewegtbildmarkt eingehen. So liefert Kantar am 23. Oktober die Übersicht "From TV to TV – from Television to Total Video". Die große Frage zur "Neu-Ordnung - Der deutsche TV-Markt im Umbruch" stellt zum Auftakt des 2. Messetages der TV-Gipfel. Beim VoD Special am 24. Oktober ziehen unter anderem Katja Hofem von Joyn, Jan Wachtel von TV Now und Nicolas Paalzow von Pantaflix eine Zwischenbilanz der deutschen Netflix-Herausforderer. Einen Eindruck gibt es unter www.medientage.de/programm oder in der App.
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