Mut zur Lücke, Kraft der Community: Die deutsche Podcast-Szene ringt mit Diversität, experimentiert mit KI und entdeckt den Wert der Fan-Schar neu. Das ist bei der Konferenz So Many Voices in München deutlich geworden, veranstaltet vom Label hauseins und dem MedienNetzwerk Bayern. Diskutiert wurde von mehr als 150 Teilnehmenden aus der Podcast-Branche, warum Hosts und Produzierende mehr riskieren, mehr scheitern und auch viel mehr „spinnen“ sollten. Ein Streifzug durch Workshops und Ideen, die Lust machen, das eigene Format umzupflügen.
Jeanne Drach (Foto oben: Medien.Bayern GmbH/MedienNetzwerk Bayern) von OH WOW rief mit ihrer Keynote zur Podcast-Rebellion auf: „Wir als erste Generation dürfen alles. Wir prägen den Podcast.“
Crazy bedeutet für sie nicht Klamauk um jeden Preis, sondern Mut zum Verschieben der Grenzen – bei Moderation, Sounddesign, Interviewführung oder auch Genres. Wer sich zu sehr an vermeintliche Regeln klammert, produziert im KI-Zeitalter austauschbare Inhalte; wer spinnt, baut ihr zufolge Welten in den Köpfen der Hörer:innen.
Drachs Plädoyer für mehr Mut zog sich wie ein roter Faden durch die zweitägige Branchenveranstaltung. Ob bei Moderation, Sounddesign oder Interview-Führung: Überall lauern Möglichkeiten, Konventionen zu sprengen. Sie nannte Beispiele wie „Everything is Alive", wo Dinge und Tiere interviewt werden, oder den BR-Podcast „OBSESSED – Döner Papers", bei dem ein Team dem Erfinder des ikonischen Döner-Logos nachspürt. „Man merkt einfach, dass sie Spaß hatten", sagte Drach. Genau diese Spielfreude fehle zu oft.
Der Dumpling macht's natürlich
Mindestens so wichtig wie „crazy“ Ideen: Hosts, die wie echte Menschen klingen. André Dér-Hörmeyer vom BR-Podcast "World Wide Web“ beschreibt, wie schwer es Journalist:innen fällt, aus Phrasen auszubrechen. Er plädierte bei So many Voices für mehr Alltagssprache, Verben nach vorn, lauten Mitsprechen beim Schreiben – und warnte vor dem „Podcast-Bingo“ (Foto: Medien.Bayern GmbH/MedienNetzwerk Bayern) der immer gleichen Floskeln.
Sein Werkzeug dagegen heißt „Dumpling“, eine Methode aus den USA. Das Konzept stammt ursprünglich von Radiolab und wurde vom BR-Team gemeinsam mit Ex-Radiolab-Producer Tim Howard weiterentwickelt. Die Idee: Hosts recherchieren ein Thema und „dumpen" ihre Erkenntnisse ungefiltert den Co-Hosts hin – ohne dass diese die Story oder Interviews vorher kennen.
So entsteht ein Mix aus gescripteten Teilen und spontanen Reaktionen, der Recherche sichtbar macht, ohne in peinliches „Boah, krass“-Theater zu kippen. Nicht jede Story eignet sich dafür – aber besonders Geschichten mit Meta-Ebene oder Mystery-Element gewinnen, wenn Hosts staunen, zweifeln und entdecken dürfen.
Community als Gegenmittel zur News-Müdigkeit
Während manche Podcaster:innen mit Erzähltechniken experimentieren, kämpfen andere gegen ein grundsätzlicheres Problem: News Avoidance. Lisa Bertram und Matthis Dierkes vom WDR-Podcast „0630" starten ihren Arbeitstag um drei Uhr morgens – und stellen sich täglich der Herausforderung, 18- bis 24-Jährige für Nachrichten zu begeistern.
Ihr Rezept: radikale Community-Einbindung. Via WhatsApp Broadcast und Spotify-Umfragen holen sie ihre Hörerschaft direkt in den Podcast. „Es gehören nicht nur die nackten Fakten zu unserem Job, sondern auch Gefühle und Impulse aus unserer Community", sagte Bertram.
Das funktioniert: Rund 70 Prozent der Reichweite kommt über Spotify, wo sich inzwischen eine lebhafte Diskussionskultur entwickelt hat. „Mit und untereinander", wie Dierkes betonte. Die Community liefert Themenvorschläge, Expert:innen-Kontakte und sorgt dafür, dass Nachrichten sich relevant anfühlen. „Spotify hat sich binnen Jahresfrist sehr interessant entwickelt und ist inzwischen zu unserem Haupt-Rückkanal für Kommentare aus der Community geworden. Auch ein News-Podcast ohne eigene Social-Kanäle kann so eine Community aufbauen", stellte Dierkes klar.
Lisa Bertram und Matthis Dierkes (Foto: Medien.Bayern GmbH/MedienNetzwerk Bayern)
KI: Feature oder Fata Morgana?
Ein Thema dominiert 2025 jede Medienkonferenz: Künstliche Intelligenz. Casper von Allwörden (Foto: Medien.Bayern GmbH/MedienNetzwerk Bayern) von Radio Bremen gab bei So many Voices einen realistischen Lagebericht: „Der ganz große Hype ist vorbei, wir treten seit rund einem Jahr in eine produktivere Phase ein." Gleichzeitig warnt er vor der Blasen-Gefahr, weil mit KI noch kaum Geld verdient wird.
Seine Empfehlungen reichen von Audio-Optimierungs-Tools wie Audiophonic über KI-generierte Musik bei Suno bis zu visuellen Anwendungen.
Bei aller Euphorie mahnte der langjährige Tech-Journalist zur Vorsicht: Bei Musik bleibt die Rechtslage unklar, bei Textarbeit drohen Halluzinationen – „jede dritte Antwort könnte erfunden sein".
Seinen eigenen Silicon-Weekly-Tech-News-Podcast setzt er bereits mit agentischen KI-Workflows um, räumt aber ein: „Du musst auch programmieren können." Bis breite Massen solche Tools nutzen, dauere es noch zwei bis drei Jahre, so Casper von Allwörden.
Die Diversitätslücke bleibt
Die Podcast-Charts mögen jung aussehen, doch divers sind sie selten. Auf der Bühne der Session „Zwei weiße Männer unterhalten sich…“ machten Podcaster:innen wie Ayesha Khan und Dennis Chiponda deutlich, wie stark Algorithmen und Promi-Formate den Markt dominieren. Wer keine Reichweite mitbringt, taucht oft schlicht nicht auf – obwohl Podcasts einmal als Raum für alle Geschichten gestartet sind.
Gerade ostdeutsche Perspektiven würden zeigen, wie groß die Lücken sind, war der Tenor. Journalist:innen wie Pia Stendera und Judith Geffert berichteten, wie schwierig es ist, jenseits von Wahljahren und Jubeljahren Aufmerksamkeit zu bekommen – und wie viel zivilgesellschaftliches Engagement im Osten unsichtbar bleibt. Chiponda erinnerte daran, dass es in manchen Regionen weniger Podcasts gibt, weil das bürgerliche Selbstverständnis „Ich rede, andere hören zu“ fehle. Umso wichtiger, Räume zu schaffen, in denen andere Stimmen erzählen.
Medienforscherin Vera Katzenberger von der Uni Leipzig ergänzte bei der Podcast-Konferenz mit harten Fakten. Über 1000 Podcaster:innen hat sie zusammen mit ihrem Team für eine Studie befragt und dabei unter anderem herausgefunden: „Viele berichten, dass sie beim kreativen Prozess immer die Algorithmen der Plattformen im Kopf haben und den Inhalt danach ausrichten.“ Mit Bedauern blickte die Branche auf diese Entwicklung: „Podcast war ursprünglich ein Raum, wo jeder Geschichten erzählen konnte", sagte Chiponda. „Aktuell wird er durch die Professionalisierung aber immer mehr zum Raum, wo Menschen erzählen dürfen, die eh schon viel Reichweite haben."
Laura Bohné vom PULS Talente-Programm des BR konterte mit einem klaren Appell: „Nicht über Menschen reden, sondern mit Menschen reden – und sogar mit ihnen arbeiten." Ihr Credo: „Diversität ist kein Trend, sondern Realität."
Kleine Podcasts, große Chancen
Christoph Falke von PODIUS lieferte bei So many Voices nüchterne Zahlen: 43 Prozent der deutschen Podcasts haben weniger als 1000 Abrufe pro Monat. Aber: „Das kann man positiv sehen: Ich brauch nur mehr als 5000 Abrufe, um zum oberen Drittel zu gehören", so Falke. Relevanz entstehe nicht automatisch durch Qualität, sondern durch die richtigen Themen zur richtigen Zeit. „Jede Nische wird ausgeleuchtet", sagte Falke. „Wenn du mit dem richtigen Thema kommst, kannst du mit ein bisschen Push sofort national sichtbar werden."
Anna Scholz und Claudia Torres von Oh my Pod! wollen genau hier ansetzen: Mit ihrem Newsletter bieten sie guten Podcasts eine Bühne. „Es gibt viel weniger Sichtbarkeit für Podcasts als für Filme, Bücher und Musik", kritisierte Torres. Giovanni Pellegrino aus München riet kleinen Produzent:innen: „Sucht euch kleine Partner wie das Geschäft nebenan zur Finanzierung."
Wie sich Wirkung auch mit kleinen Zahlen entfalten lässt, zeigte der Eichenau Podcast. Mit rund 100 Hörer:innen fühlt er sich für die Macher:innen wie Lokaljournalismus im besten Sinn an: Die Feuerwehr gewinnt ein neues Mitglied, auf dem Adventsmarkt steht eine „Zuhörbude“, zur Kommunalwahl gibt es eine Podiumsdiskussion. Hyperlokale Podcasts beweisen, dass Relevanz nicht mit Masse beginnen muss.
Auf der Produktionsseite formieren sich Kollektive wie Lagune 11, die Kompetenz und Mental Load teilen. Gleichzeitig professionalisieren Häuser wie der BR ihre Pitch-Prozesse: Ein Modell mit Bewertungen in den Kategorien „Protagonist:innen, Story, Perspektive, Relevanz, Potenzial, Partnerschaft“ hilft der Münchner ARD-Anstalt, begrenzte Zeit und Ressourcen gezielt einzusetzen – und freischaffenden Teams trotzdem gutes Feedback zu geben. Entscheidend bleibt: Keine Themen, sondern Geschichten pitchen.
Lukas Schöne, MedienNetzwerk Bayern, mit Katrin Rönicke, hauseins (Foto: Medien.Bayern GmbH/MedienNetzwerk Bayern)
Warum wir mehr spinnen sollten ...
Am Ende der zwei Konferenztage wurde deutlich: Die Podcast-Branche steckt in einer Zwischenphase. Das Medium ist erwachsen geworden, die Professionalisierung schreitet voran. Gleichzeitig muss sie sich ihrer Wurzeln besinnen – Offenheit, Experimentierfreude, Vielfalt der Stimmen. Eben all das, was für viele Menschen den Reiz des Podcasts darstellt.
Jeanne Drachs Aufruf zum Verrücktsein klingt deshalb durchaus nach Notwendigkeit. Dabei darf Buntes und Kreatives, wie Autorin Miku Sophie Kühmel in ihrer Session zu Dramaturgie ausführte, ruhig Zeit brauchen: „Mut zur erst einmal schlechten Idee, die dann immer besser wird. Und Mut zur Entscheidung." Wer 2025 im Podcast gehört werden will, muss sich trauen – zu spinnen, zu experimentieren, Grenzen zu verschieben. Das Medium ist noch jung genug dafür.
Passend zum Themenfeld der So many Voices hat Lukas Schöne, Moderator im Rahmen der Podcast-Konferenz und Host des MEDIENTAGE-Podcasts This is Media Now, eine Folge über den "Podcast-Markt im Umbruch" aufgenommen. In der aktuellen Episode erzählt Alexander Krawczyk von SevenOne Audio, wie die Erfolgsgeschichte von Podcasts weitergeht und wieso für Maria Lorenz-Bokelberg Audio der Kern bleibt. Des Weiteren geht Sarah Berg-Türkis auf die Audio-Strategie der ZEIT ein.
Auch wenn die MTM als Konferenz bis zum 21. Oktober 2026 pausieren: Wir bleiben präsent! Die Zusammenfassungen wichtiger Panel-Diskussionen sowie Bildmaterial der 39. MEDIENTAGE MÜNCHEN stehen im Info-Bereich der MEDIENTAGE-Homepage und auch im MTM-Blog bereit. Bilder für den Download (Quelle: Medien.Bayern GmbH/MEDIENTAGE MÜNCHEN) sind in der Mediathek zu finden.
Zudem können zahlreiche MTM-Themen passenderweise gehört werden: im Podcast "This is Media NOW".




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