
In einer Welt voller Krisen und Informationsflut ziehen sich immer mehr Menschen vom demokratischen Diskurs zurück. Eine aktuelle Studie der Bayerischen Landeszentrale für neue Medien (BLM) deckt auf: Nicht Fakten allein, sondern auch Emotionen prägen unsere Meinungen. Mit sechs identifizierten "Meinungstypen" liefert die Forschung überraschende Einblicke – und zeigt, warum 35 Prozent der Deutschen mental bereits abgeschaltet haben. Doch es gibt Hoffnung: Wer die richtigen Saiten anschlägt, kann auch die Skeptischen wieder ins Boot holen.
Gerade schieben Vorreiter:innen aus Medien, Werbung und Politik das Projekt Zuversicht an, um Menschen wieder aktiv in den gesellschaftlichen Diskurs einzubinden. Doch was passiert, wenn Menschen gar nicht erreicht werden wollen? Wenn sie sich in turbulenten Zeiten zunehmend schwer tun, eine Meinung zu bilden? Denn immer mehr unter uns fühlen sich vom öffentlichen Diskurs nicht mehr angesprochen. Manche wenden sich sogar enttäuscht und wütend ab. Oder sie ziehen sich zurück, aus Angst, Überforderung oder Resignation.
Wie unterschiedlich Meinungsbildung in Deutschland bei diesen Entwicklungen heute funktioniert, durchleuchtet eine repräsentative Studie der BLM – entstanden in Kooperation mit dem rheingold Institut und der Uni Mainz. Zentrale Erkenntnis des Werks "Angebunden oder Abgekoppelt? Die Anbindung der Bevölkerung an die politische Öffentlichkeit": Nicht nur Fakten prägen unsere politischen Ansichten, sondern auch Emotionen und Sehnsüchte.
Angebunden oder abgekoppelt?
Die Forschenden der Uni Mainz um Prof. Dr. Birgit Stark, Daniel Stegmann und Dr. Pascal Schneiders, haben mit der Studie im vergangenen Frühjahr sechs verschiedene Meinungstypen identifiziert. Sie folgern daraus, dass Medien unterschiedliche Bedürfnisse ansprechen müssen, damit alle am demokratischen Diskurs teilnehmen können. Die Ergebnisse machen deutlich: "Die Mehrheit ist noch anschlussfähig, doch es gibt Gruppen mit deutlichen Abkopplungstendenzen“, wie es in der Ankündigung zur Präsentation des Werks heißt.
Die Studie identifiziert sechs Meinungsbildungstypen in Deutschland, basierend auf systematischer Informationsverarbeitung und subjektiver Meinungsstärke. Während drei Typen – genannt "flexible Meinungspragmatiker“, "anspruchsvolle Meinungsoptimierer“ und "offensive Meinungskämpfer“ – gut an den demokratischen Diskurs angebunden sind, zeigen die anderen drei "problematische Abkopplungstendenzen“:
- Ängstliche Selbststabilisierer:innen (9 Prozent):
Sie fühlen sich durch politische Inhalte überfordert, ziehen sich eher zurück und konsumieren Medien nur oberflächlich. Zu ihnen zählen überwiegend Frauen. Sie haben grundsätzliches Vertrauen in etablierte Medien, aber mangelnde Orientierung hindert sie an aktiver Teilhabe. - Eskapistische Meinungsmitläufer:innen (14 Prozent):
Diese Gruppe zeigt kaum Interesse an Politik, bevorzugt Unterhaltung und soziale Medien. Trotz selbstempfundener Meinungsschwäche äußern sie oft extreme Ansichten und vermeiden aktiv tiefergehende Information. Sie informieren sich nur, wenn sie sich konkret betroffen fühlen. - Empörte Meinungsanhänger:innen (12 Prozent):
Wer zu diesem Typ zählt, informiert sich gezielt dort, wo ihre Wut bestätigt wird, meist über Social Media, Influencer oder persönliche Netzwerke. Man sucht Meinungskonformität statt Vielfalt und zeigen Affinität zu Parteien wie AfD oder BSW.

Quelle: "Angebunden oder Abgekoppelt? Die Anbindung der Bevölkerung an die politische Öffentlichkeit", BLM
Informationsverhalten, Informationswege, Informationsquellen
Was tun, um die "vulnerablen“ Gruppen, die anfällig sind für Desinformation oder radikale Meinungen, wieder an Meinungsbildung und den demokratischen Prozess anzubinden? Das Werk legt Medien spezifische Strategien nahe:
- Ängstliche benötigen verständliche Formate und vertrauenswürdige Expert:innen als Vermittler:innen.
- Eskapist:innen erreicht man durch niedrigschwellige, unterhaltsame Formate mit Alltagsbezug.
- Empörte brauchen Dialograum und Multiplikator:innen, die verschiedene Positionen gleichwertig darstellen.
Für alle drei Gruppen gilt: Die Vehikel sind eine einfache Sprache, respektvolle Ansprache, lebensnahe Inhalte, Vertrauensaufbau durch Menschen statt Institutionen und Begleitung gegen Überforderung. Die Studie liefert die zentrale Erkenntnis: Meinungsbildung ist weniger eine Frage der Informationsverfügbarkeit als der emotionalen und sozialen Einbettung. Menschen wenden sich politischen Inhalten nur zu, wenn diese zu ihren Lebensrealitäten passen. Die demokratische Herausforderung besteht darin, Verbindungen herzustellen statt nur mehr Information zu liefern.
So unterschiedlich informieren sich die Meinungsbildungstypen:
Quelle: "Angebunden oder Abgekoppelt? Die Anbindung der Bevölkerung an die politische Öffentlichkeit", BLM
"Meinungsbildung ist nichts Einfaches“
Bei Online-Präsentation der Studie und dem morphologischen Muster hinter den empirischen Profilen durch das rheingold Institut, machte dessen Geschäftsführer Sebastian Buggert, im Interview mit Moderatorin Natalie Wehrmann von der BLM deutlich: "Meinungsbildung ist nichts Einfaches.“ Sie sei aber Voraussetzung, um handeln zu können, um wählen zu gehen. Meinungsbildung könne aber auch Halt, Anerkennung, Bestätigung und Gemeinschaft schaffen. Darüber hinaus seien Meinungen streitbar, was es anstrengend mache, Standpunkte zu verteidigen.
Man habe sich in Tiefeninterviews mit 36 Menschen vor allem damit beschäftigt, wie sie zu ihren Meinungen kommen, welche Motive sie dabei bewegen. Allgemeine Ausgangslage sei, so Buggert (Foto: rheingold Institut), dass jeder inzwischen ein kleiner digitaler König sei, der auf externe Probleme wie Inflation, Krieg und Krise treffe. Die Folge sei Empörung, Enttäuschung und eine enorme emotionale Belastung, so Buggert.
Prof. Dr. Birgit Stark von der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, die die Studie begleitet hat, wies auf die hohe Bedeutung der Meinungsbildung in Zeiten der "Krisenpermanenz“ hin, in denen Menschen von enormen Informationsdichte umgeben sind. KI erhöhe zudem die Gefahr von Desinformation. All das mache es immer schwerer, richtige und glaubwürdige Informationen zu finden. Mit starken Auswirkungen für Meinungsbildung und demokratischer Teilhabe. Sie hob "Abkopplungstendenzen“ hervor, die deutlich spürbar seien. Medialer Art etwa, wenn man sich generell von Nachrichten abwende oder aber von bestimmten Quellen.
Besonders negative News könnten abschrecken ebenso wie ein Gefühl der Überforderung persönlicher Art, betonte Stark. Im schlimmsten Fall folge der komplette Rückzug ins Private, man meide und verliere zunehmend den "Common Meeting Ground". Die Wissenschaftlerin legte den Regulierer:innen ein "kontinuierliches Monitoring“ der weiter hoch dynamischen Entwicklung mit stets neuen Informationsquellen nahe.
Lehren für Regulierung und Förderung
BLM-Präsident Dr. Thorsten Schmiege warnte mit Blick auf die Ergebnisse: "Gelingt es nicht, Menschen alltagsnah und psychologisch klug zu erreichen, gefährden wir unsere Demokratie." Zwar beteilige sich die Mehrheit aktiv am gesellschaftlichen Gespräch, doch alarmierend sei: 35 Prozent ziehen sich zurück. Sie fühlten sich überfordert, konsumieren einseitig Medien oder grenzen sich bewusst ab.
Besonders problematisch seien "Meinungsmitläufer", die Politik meiden aber extreme Positionen vertreten, und "Empörte", die außerhalb klassischer Medien nach Bestätigung ihrer Wut suchen.
Die Studie habe weit mehr und tiefere Ergebnisse geliefert, als im Vorfeld erwartet worden sei, räumte der BLM-Präsident ein. Mit der Folge, dass vieles neu gedacht werden müsse in Medien und Medienpolitik. Das Spannende sei nun, zu versuchen, jede:n in passender Nutzungssituation zu erreichen. Die Motive der Nutzung müsste viel stärker ins Visier genommen, die Medienaufsicht sensibilisiert und die Förderung objektiver Berichterstattung intensiviert werden.
Quelle: "Angebunden oder Abgekoppelt? Die Anbindung der Bevölkerung an die politische Öffentlichkeit", BLM
Wie können Medien Brücken schlagen?
Und wie läuft es in der journalistischen Praxis? Karolin Kandler aus dem Team der "ProSieben Newstime“, hilft es, "Zuschauer zu verstehen“, möglichst objektiv sowie neutral zu berichten und mit versöhnlichen Nachrichten aus der Sendung zu gehen. Möglichst verständlich solle berichtet werden, heruntergebrochen auf Situationen, die Zuschauende persönlich nachvollziehen könnten. Grafiken könnten dabei unterstützen.
Liv von Boetticher, die für RTL Deutschland komplexe Newsthemen beispielweise aus Afghanistan liefert, geht mit einer "anderen Perspektive“ und einem konstruktiven Ansatz an schwere Themen heran und rät zu längeren Nachrichtenformaten für Interessierte. Um andere nicht zu überfordern, würden sich indes kurze Beiträge in den News-Sendungen durchaus eignen.
Was ist mit "einer anderen Perspektive" gemeint? Wichtig sei, so Von Boetticher, bei negativen Themen einen Lösungsansatz mitzuliefern, um das Publikum mit entstehenden Fragen und Problemen nicht alleine zu lassen. Denn: "Viele Menschen haben das Gefühl, dass ihre Sorgen nicht ernst genommen werden“, so die RTL-Investigativ-Reporterin, die auch permanenten Quotendruck beim Sender einräumt.
Augen auf bei der Social-Media-Strategie!
Den Faden griffen Social-Media-Stratege Teja Adams und Sally Lisa Starken, freie Journalistin und Podcasterin, auf. Adams riet Medienschaffenden, mehr in Lebenswelten und persönlicher Betroffenheit der User zu denken, komplexe Geschichten mit persönlicher Betroffenheit zu erklären (Beispiel Rente: Das bedeutet die Reform für meinen Jahrgang ...). Und das Ganze auch noch "snackable“: "Verpackung und Inhalt müssen passen und eng zusammengedacht werden. Wir brauchen weniger klassisches Aussenden, dafür mehr mit den Menschen etwas zusammen machen.“ Austausch mit den Medienkonsument:innen sei "essenziell“, Social Media biete große Chancen und große Verantwortung; der "Erstkontakt“ entscheide. Ein Newsquiz, eine interaktive Galerie: Teja Adams appelliert an Medien, im Social Web "erzählerische Spielwiesen“ auszubreiten.
Starken warnte davor, Politik-News wie eine Soap aufzubereiten und bei den Menschen zu viel Wissen aus dem Vorfeld vorauszusetzen. Ihr liegt daran, die Konsument:innen erzählerisch wie eine "Freundin zu behandeln, mit der man am Kaffeetisch sitzt“. Auch sei es immens wichtig, für Transparenz zu sorgen und den Menschen die Quellenlage aufzudecken.
Je nach Plattform müsste unterschiedlich berichtet und inszeniert werden; auf Instagram funktionierten Stories anders als bei TikTok. Starken: "Wir müssen den Algorithmus verstehen und nutzen. Darin liegt eine große Chance, um positive Nachrichten und komplexe Informationen zu framen.“ Mit gut gemachten Clips und Posts könnten zentrale Botschaften wieder besser bei den Menschen verankert werden.
Apropos: Die Algorithmen der digitalen Plattformen belohnten nicht die Inhalte, sondern die Verweildauer, ergänzte Experte Teja Adams. Social Media sei wichtig, aber nicht der einzige Ort für Öffentlichkeit und Aufmerksamkeit.
Die BLM-Studie kann hier heruntergeladen werden.
Die Zusammenfassungen wichtiger Panel-Diskussionen sowie Bildmaterial der 38. MEDIENTAGE MÜNCHEN stehen in der Mediathek der Medientage-Homepage und im MTM-Blog bereit. Dort kann auch der wöchentliche Blog-Newsletter abonniert werden.
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