Es geht ums Überleben. Ums Überleben einer Branche, aber auch ums Überleben von Kultur, Vielfalt, Qualität und Sehgewohnheiten. Einige Experten fordern, deutsche Qualitätsumfelder müssen sich der digitalen Welt und der Werbevermarktung mehr öffnen. Andere appellieren, dass sich Sender zusammenschließen sollen, um den globalen Bewegtbild-Giganten die Stirn bieten zu können. Manch einer ist überzeugt, den Plattformen wird künftig die Marktmacht gehören. Einig sind sie sich darin, dass das deutsche Programm, wie wir es kennen, andernfalls bald verschwunden sein wird. Und das will niemand.
Bremsen ließe sich das mit mutigeren Ansätzen, die alte Denkmuster verlassen. Ein Szenario und erste Skizzen für einen Zukunftsplan von unserer Blog-Autorin Susanne Herrmann.
Das deutsche Fernsehen ist nicht perfekt. Die Aufteilung in öffentlich-rechtlich und privat ist angreifbar, die Finanzierung beider Modelle wackelig, die Programmqualität reicht von mies bis Weltklasse. Und die Erfolgsmessung in Form von Reichweiten für einzelne Formate ist in Zeiten von Streaming und Bewegtbild überholt, wenn man nicht auf die Gesamtzahl der mit dem eigenen Angebot erreichten Menschen über alle Formate, Zeiten und Verbreitungswege schaut.
Das deutsche Fernsehen ist dennoch wichtig. Wir brauchen unabhängige journalistische Formate, die mit kritischem Blick das Geschehen in- und außerhalb Deutschlands begleiten, die aus hiesiger Perspektive von Wanne-Eikel ebenso berichten wie von Washington. Das dürfte unumstritten sein in der Branche.
Wir brauchen aber auch Musiksendungen mit Florian Silbereisen. Den „Tatort“ aus Wien, Köln, München. Fußball und Golf, „Promi-Büßen“ und Hitler-Dokus, DSDS und GNTM, „Hubert ohne Staller“ und „Soko“, „Heute-Show“ und „Ladies Night“. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Weil das Formate sind, die auf ihre Art Land und Leute widerspiegeln.
Nicht alle brauchen wir dringend, es werden auch nicht alle die Zeitenwende überstehen, aber: Es sind Identifikationsformate, die unseren Blick auf die Welt abbilden und sich – im Guten wie im Schlechten, das ist Geschmacksache – abheben von internationalen, meist US-Produktionen. TV-Inhalte eben, die ein bisschen so sind wie wir.
Das Eingekaufte aus Übersee hat selbstverständlich ebenso seine Berechtigung und soll deutschtümelndem Programm auch gar nicht weichen. Es aber auch nicht verdrängen.
Denn aktuell sind alle deutschen Angebote, selbst zusammengenommen, lächerliche Zwerge auf einem immer internationaleren Markt, auf dem eine nationale ARD mit dem globalen Amazon um Aufmerksamkeit kämpft, auf dem eine Senderfamilie wie ProSiebenSat.1 mit finanzstarken Akteuren wie Paramount+ um Relevanz und Werbegelder ringt. Und auf dem hiesige Sender vieles richtig machen – und ganz vieles falsch.
Zum Beispiel versuchen sie zu viel und verzetteln sich teilweise dabei.
Hallo Europa!
Allein kann hier kein Programmanbieter gewinnen. Binse: Gemeinsam sind wir stark. Stimmt immer. Allerdings ist der deutsche Markt selbst dann noch klein. Also raus aus dem winzigen Teich.
Wir sind nämlich nicht allein!
So hat Dänemarks öffentlich-rechtliches DR1 beispielsweise mit der Politserie „Borgen“ Anerkennung und Erfolg verdient. Doch Staffel vier wird nun mit Netflix produziert – also hierzulande nicht bei Arte laufen. Oder schauen wir nach Großbritannien: Kürzlich hat die BBC erneute Sparmaßnahmen verkündet. Die britische öffentlich-rechtliche Station schätzen Zuschauer:innen und Expert:innen auf der ganzen Welt für ihre seriösen Nachrichten, klasse Reportagen und grandiosen Serien. Sie kämpft dennoch. Marktschwierigkeiten sind kein deutsches Phänomen.
Zuverlässig werden nun Kritiker:innen anmerken, dass es wettbewerbsrechtliche Probleme gibt, dass EU-Recht und europäische Regeln schon in anderen Bereichen knirschen, dass das Kartellrecht Zusammenschlüsse auf nationaler Ebene verbietet. Wie soll das dann europaweit funktionieren? Und doch: Dass ein europäisches Austauschprogramm funktioniert, macht der BR mit „Euroblick“ schon mal vor.
Regeln sind menschengemacht, Gesetze verabschieden Politiker:innen. Also lassen sie sich den Realitäten anpassen.
Außerdem ist die Alternative zu dieser Zusammenarbeit eine, die wir uns alle nicht vorstellen wollen: Ein weiterer Markt, der rein nach marktwirtschaftlicher Logik funktioniert, geht sang- und klanglos an die zwei oder drei Meistbietenden. Ist das die Welt, in der wir fernsehen wollen?
Hier geht es nicht darum, ob alle dieselben Designerhosen tragen oder jeder auf einmal Bowls essen und Bubble Tea trinken will – sondern um Information, Demokratie, Bildung und ja, Kultur. Die Probleme, die hier durch die Digitalisierung und Onlinemedien entstanden sind, sind hinlänglich bekannt.
Besinnt euch auf eure Stärken!
Mit den Öffentlich-Rechtlichen könnte es losgehen, eigentlich aber gehören auch die Privatsender mit ins Boot. Eine Europäische Rundfunkanstalt mit angeschlossenen National- und Regionalanstalten – ja, den Versuch der Rundfunkunion (EBU) gibt es. Aber Euronews und Eurovision Song Contest, das ist einfach viel zu wenig.
Seid mutig, haltet zusammen, arbeitet ressourcenorientiert:
- Baut einen Zusammenschluss europäischer Programme mit vergleichbarem Hintergrund, der in Summe mit wettbewerbsfähigen Reichweiten und solider Finanzierung handlungsfähig ist ...
- Wo nationale Programme ihre Vielfalt ausspielen können, aber Gemeinsamkeiten die Qualität verbessern.
- Korrespondentennetze, Nachrichten, Reportagen, Serien, junge Angebote – jeder macht, was er am besten kann.
- Idealerweise ein werbe- und gebührenfinanziertes Angebot, aus EU-Töpfen vielleicht gefördert, damit zum Beispiel am Ende Kulturfertigkeiten von Krabbenpulen bis Schuhplatteln, von Literaturzirkel bis Kabarett nicht verlorengehen.
- Und der kritische Blick ins Ausland erhalten bleiben kann, ohne in Krisenfällen wie derzeit angewiesen zu sein auf Propaganda.
Dafür aber müssten die Sender kräftig ausmisten: Was gehört zu meinem unverzichtbaren Angebot? Was ist meine Kernkompetenz? Welches Nischenprogramm ist erhaltenswert? (Und dass nicht mehr das Massenpublikum, sondern die Vielzahl der Nischen den Erfolg ausmacht, das wurde an anderer Stelle durch die Erfolge internationaler Streamer hinreichend belegt.)
Dafür müssten die Sender außerdem den Einkauf auflösen: Stattdessen würden sie als unabhängige Produktionen auftreten, die diejenigen Inhalte herstellen, die in ihrer Region relevant sind.
Plattformplatzierung ftw!
Dieses Europaprogramm landet dann, aufgrund seiner Unvermeidbarkeit oder aufgrund von Marktzugangsregelungen, auf der Startseite jedes TV-Betriebssystems oder jeder Aggregatorenplattform, über die in Zukunft ohnehin alle Zuschauer:innen in die Welt des Fernsehens (nennen wir das ruhig weiter so) eintauchen werden.
Klar, das würde alles andere als leicht. Es sind Regeln zu ändern, Hürden abzubauen, Denkmuster zu verlernen. Wir können auch weiterhin überlegen, ob es genügt, Mediatheken benutzerfreundlich zu machen, unsere tollen Formate auf Instagram zu posten und Werbung für lineare Übertragung und Streaming zu verkaufen. Wir können uns gegenseitig auf die Schultern klopfen, wie überragend immer noch die Zuschauerzahlen im klassischen Fernsehen sind und wie günstig wir den Hollywoodfilm X und die Sportrechte Y erworben haben.
Nur reichen wird das nicht.
Ich für meinen Teil will deutsche Programmfarben, wenigstens in großen Teilen, behalten. Klappen kann das nur mit schmerzhaften Prozessen – mit verrückten Ideen, die vermutlich noch viel weiter gehen als die hier skizzierten.
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