Die Extremsituation Corona hat den Medienwandel beschleunigt: Zu diesem Schluss kommt die Beratung Deloitte, deren Mediennutzungsstudien deutlich machen, wie sich Coronabeschränkungen und -lockerungen auswirkten. Welche Lehren sich daraus ableiten, erläutert Klaus Böhm, Leiter Media & Entertainment bei Deloitte. Im Interview mit dem Blog der Medientage München verrät er außerdem schon einmal, was es mit der Analyse „Future of Screens“ auf sich hat und warum diese Prognose der Medienbranche dabei helfen kann, sich aktiv auf die Zukunft vorzubereiten.
Herr Böhm, im Rahmen der Medientage München 2020 werden Sie den Deloitte-Ausblick „Future of Screens“ vorstellen, der die Rolle der Bildschirme im Jahr 2030 skizziert. Verraten Sie uns ganz kurz, worum es geht?
Wie der Name verrät, geht es darum, welche Bedeutung Bildschirme in Zukunft haben, wie Mediennutzung stattfinden wird, aber auch: Wie wird die Benutzeroberfläche „Screen“ aussehen, welchen Stellenwert wird sie haben?
Wir haben vier extreme Szenarien abgeleitet, die Medienschaffenden aufzeigen, für wen und für welche Use-Cases wir vielleicht in Zukunft unsere Inhalte gestalten werden.
Laut Ihren Experten sind vier Szenarien denkbar: Zwei davon drehen sich um die Omnipräsenz von Bildschirmen in der öffentlichen und privaten Welt mit unterschiedlichem Personalisierungsgrad, zwei davon skizzieren einen eher reduzierteren Einsatz von wenigen Screens beziehungsweise einem sehr persönlichen Gerät für alles. Wovon wird es abhängen, in welche Richtung es gehen kann?
Ein wichtiger Aspekt wird die Datennutzung sein. Inwieweit kann Personalisierung vorgenommen werden, damit dem jeweiligen Nutzer für seine aktuelle Situation exakt passende Inhalte oder Funktionen ausgespielt werden? Zudem spielt auch die Verfügbarkeit von Daten eine wichtige Rolle. Dabei geht es einerseits um den rechtlichen Rahmen, aber auch darum, was gesellschaftlich akzeptiert wird.
Dann gibt es da natürlich noch den Formfaktor: Werden Bildschirme aussehen wie das, was wir heute von unseren TV-Geräten oder Smartphones kennen? Hier sind ganz neue Formen denkbar, zum Beispiel die Projektion auf öffentliche Flächen oder sogar direkt auf die Iris.
Welches Szenario halten Sie für das Wahrscheinlichste?
Es geht nicht darum, welches Szenario das Wahrscheinlichste oder das Wünschenswerteste ist. Wir wollen mit den Szenarien einen Rahmen bieten, in dem wir mit den Medienunternehmen diskutieren können, um mit ihnen Visionen und Strategien zu entwickeln und konkrete Maßnahmen abzuleiten.
Die Zukunft passiert ja nicht einfach, sondern kann von uns mitgestaltet werden. Wir wollen mit unseren Kunden an dieser Zukunft arbeiten und gemeinsam die Grundlage für eine erfolgreiche Weiterentwicklung legen.
Mit drei Erhebungen haben Sie im „Deloitte Media Consumer Survey 2020“ die Mediennutzung der Deutschen vor der Corona-Pandemie, während der Beschränkungen und nach den Lockerungen untersucht. Die letzte Befragungswelle zeigte, wie Sie es formulieren: „Die Renaissance traditioneller Angebote war ein kurzes Strohfeuer.“ Die Rückkehr zum Beinah-Alltag hat die Verhältnisse von vorher quasi zementiert: Digitale Angebote sind die Gewinner, traditionelle Medienangebote stehen unter Druck. Also: Alles ist wieder beim Alten?
So würde ich das nicht sagen, die Pandemie war ein Brandbeschleuniger für Entwicklungen, die wir schon länger beobachtet haben: Die Digitalisierung ist gekommen, um zu bleiben. Seit den Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie werden digitale Angebote noch stärker nachgefragt. Die traditionellen Medien wie Zeitungen oder das lineare TV verlieren dagegen Nutzer.
Trotzdem gibt es auch hier eine positive Nachricht: Die Qualität der Inhalte spielt eine noch größere Rolle, als es vor Covid-19 der Fall war. Damit können traditionelle Medienanbieter wuchern. Wird hier klug investiert, kann das ein wichtiger Differenzierungsvorteil werden.
Der andere wichtige Aspekt ist das Erlösmodell der Medien. Zwar ist davon auszugehen, dass die Werbeeinbrüche in dieser Massivität vorübergehend sind, trotzdem sollten Medien, die ausschließlich auf Einnahmen durch Werbung setzen, ihr Erlösmodell überdenken. Eine Möglichkeit ist zum Beispiel Paid Content. Nutzer sind zunehmend bereit, für Qualitätsinhalte zu bezahlen.
Haben Sie den Eindruck, dass die Medien diese Chance jetzt ergreifen?
Ein gewisser Trend hin zur Etablierung von Paid Content ist durchaus erkennbar. Auch Werbefläche wird natürlich weiterhin nachgefragt. Aber auch hier muss man sich als Anbieter entsprechend neu positionieren und stärker in die technischen Plattformen für die Werbevermarktung investieren, um mit neuen Werbeformen relevante Zielgruppen zu erreichen. Die Branche entwickelt sich sehr dynamisch.
In einem kleiner werdenden Werbemarkt wird sich zum Beispiel die Rolle der Mediaagenturen ändern. Medienanbieter müssen beständig dazulernen, um sich an die sich verändernden Rahmenbedingungen anzupassen.
Wenn Sie sagen, die Rolle der Mediaagenturen wird sich ändern: In welche Richtung?
Wir haben technische Lösungen für Sales-Plattformen, die dazu führen, dass die Platzierung der Werbung in den einzelnen Kanälen nicht mehr die Hauptaufgabe der Mediaagenturen sein kann. Die Verteilung der Werbebudgets wird unwichtiger, weil sie immer automatisierter wird und vom Werbekunden und dem Medienhaus umgesetzt werden kann.
Die Beratung und die kreativen Tätigkeiten der Mediaagenturen gewinnen dagegen an Bedeutung. Das sind die Bereiche, die gestärkt werden müssen, während das heutige Hauptgeschäft nicht mehr das allein Seligmachende sein wird.
Wenn Sie sich die aktuellen Strategien der Sender und Verlage anschauen, beispielsweise Streamingplattformen und Mediatheken als Ergänzung zum linearen Programm, Radiopodcasts, kostenpflichtige Digitalangebote von Zeitungen und Zeitschriften: Reichen diese Angebote aus, um wettbewerbsfähig zu bleiben angesichts der Konkurrenz durch internationale Konzerne und Plattformen von Amazon und Netflix über Facebook bis YouTube?
Die Angebote sind weiterhin hoch relevant. Die Frage ist nur, wie sie im Markt platziert werden können. Digitale Plattformen und global agierende Anbieter haben die Möglichkeit, ein weltweites Publikum zu erreichen und differenzierter in bestimmte Zielgruppen hineinzugehen indem sie die Nutzeransprache individualisieren. Ihre schiere Größe ermöglicht es ihnen, ihre Angebote zu skalieren und damit profitabel zu sein.
Das kann ein deutsches oder europäisches Medienhaus nicht, weil es nicht diesen globalen Zugang zu den Märkten hat und das einzelnen Angebot direkt refinanzieren muss, also nicht die Möglichkeiten der Quersubventionierung hat.
Aber auch eine große digitale Plattform braucht qualitativ hochwertige Inhalte – und genau das können die Anbieter: Emotionen schaffen oder hoch professionell Informationen aufbereiten.
Die redaktionelle Arbeit der Medienanbieter bleibt auch zukünftig gefragt.
Klaus Böhm, Deloitte
Aber voraussichtlich in Partnerschaften, zum Beispiel mit den digitalen Plattformen oder mit anderen Medienanbietern, um eine höhere Skalierbarkeit und Durchdringung ihrer eigenen Plattformen im Markt zu erreichen.
Wird sich die deutsche Medienlandschaft mittelfristig durch die Erkenntnisse aus der Coronazeit spürbar ändern? Beschleunigt diese Krisenzeit gar die Entwicklungen, die Sie in „Future of Screens“ skizzieren?
Der Medienmarkt befindet sich ja schon seit einer Weile in einer Umbruchphase. Die aktuellen Entwicklungen rund um die Covid-19-Pandemie beschleunigen die Digitalisierung der Medienbranche. Neue Erlösmodelle wie Paid Content oder E-Commerce müssen schneller etabliert werden. Vielleicht wird es in Teilbranchen zu einer Konsolidierung kommen.
Ganz wichtig ist weiterhin das Thema Partnerschaften und Allianzen. Es wird zu mehr Zusammenarbeit kommen müssen – etwa unter Verlagshäusern in der Vermarktung oder in der Kreation von Inhalten bei TV-Sendern –, aber auch von Content-Anbietern mit digitalen Plattformen. Das wird in Zukunft intensiver passieren.
Klaus Böhm kennt sowohl die Medien- als auch die Beratungsseite: Er arbeitete von 1998 bis 2006 bei NBC Europe und der Mediengruppe RTL, bis er zu Deloitte wechselte. Dort leitet er nun seither die „Media Practice“ und berät Unternehmen unter anderem hinsichtlich der Konvergenz von Medien & Telekommunikation und bei Geschäftsmodellen auf digitalen Plattformen sowie Kundenbindung in der Medienindustrie.
Im Rahmen der 34. Medientage München (24. bis 30. Oktober) wird er mit Vertretern von RTL und anderen Medienprofis die Ergebnisse aus „Future of Screens“ diskutieren. Die erstmals virtuellen Medientage bringen Branchenkenner auf die digitale Bühne, die über Trends und Herausforderungen der Medienbranche sprechen.
Sie interessieren sich für Themen rund um die Medienbranche? Dann finden Sie hier im Blog der Medientage München noch mehr Lesenswertes.
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