Menschgemachter Inhalt versus KI-Content: Bei den MEDIENTAGEN MÜNCHEN 2023 haben Verantwortliche aus Publishing und Journalismus in verschiedenen Diskussionen deutlich gemacht, dass Anwendungen der künstlichen Intelligenz ihre Grenzen haben. So schafft KI zwar Freiräume für Redaktionen, kennt aber keine menschliche Perspektive. Anders bei Produktion, Produktentwicklung, Vertrieb oder Vermarktung: Wo es große Datenmengen zu managen gilt, steht die künstliche Intelligenz für ganz neue Möglichkeiten.
Ein Jahr voller neuer Eindrücke, Erwartungen, Hoffnungen – aber auch voller Ängste liegt hinter Medienschaffenden, seit die Microsoft-Beteiligung OpenAI im November 2022 das eindrucksvolle KI-Tool ChatGPT ins freie Internet entlassen und eine neue Phase im Umgang mit künstlicher Intelligenz eingeläutet hat.
KI prägte die diesjährigen MEDIENTAGE (Foto: Medien.Bayern GmbH)
Viele Testläufe und Diskussionen später steht für Redaktionen in deutschen Verlagshäusern fest: Es gibt Effizienzgewinne für die journalistische Arbeit durch den Einsatz von Künstlicher Intelligenz; der durch KI gewonnene Freiraum soll für das eingesetzt werden, was KI nicht kann – nämlich aus menschlicher Perspektive für Menschen zu schreiben.
Zu diesem Schluss kamen unter anderem Preisträger:innen des Theodor-Wolff-Preises 2023 im Rahmen der MEDIENTAGE MÜNCHEN. Die Diskussionsrunde, die sich mit dem diesjährigen MTM-Motto Intelligence auseinandersetzte, hatte der Bundesverband Digitalpublisher und Zeitungsverleger sowie der Verband Bayerischer Zeitungsverleger organisiert. Politik-Redakteurin Dunja Ramadan von der Süddeutschen Zeitung erklärte dabei, dass das Casting der Protagonisten, die für das Erzählen einer Geschichte wichtig seien, nicht durch den Einsatz von KI geleistet werden könne. „Welche Leute zu Wort kommen, die richtigen auszusuchen, um verschiedene Perspektiven zu einem Thema aufzuzeigen“, das sei ein Kriterium für Qualitätsjournalismus, das KI nicht leisten könne.
Julia Ruhnau, Redakteurin bei den Nürnberger Nachrichten, pflichtete ihrer Kollegin aus München bei. Es sei wichtig, „mit den Sachen, über die man berichtet, in Kontakt zu kommen“ und Menschen über Monate zu begleiten. Man müsse wissen, welche Auswirkungen bestimmte Ereignisse, über die Journalist:innen berichten, auf betroffene Menschen haben. „Wie ist das für die Menschen? KI stellt diese Fragen nicht“, führte Ruhnau weiter aus.
Das Gespür fürs Publikum als entscheidender Faktor: Simon Koenigsdorff, Redakteur bei der Stuttgarter Zeitung und den Stuttgarter Nachrichten, hob bei den #MTM23 hervor, dass „Geschichten mit der Lebensrealität von Menschen im Lokalen, vor Ort“ zu tun haben müssten, damit ein Text für Leser:innen interessant sei. Als Beispiel nannte Koenigsdorff das Projekt „Klimazentrale“, in dem er für die Stadt Stuttgart „die Veränderungen des Wetters vor der Haustür im Vergleich zu den vergangenen 30 Jahren“ visualisiert habe. Für die gründliche Analyse sehr großer Datensätze sei die KI sehr hilfreich und unterstützend gewesen. Dadurch sei ein Effizienzgewinn entstanden, den er für tiefergehende Recherchen zu dem Thema habe nutzen können.
An dem Projekt hat auch Dr. Jan-Georg Plavec, leitender Redakteur für Datenjournalismus und Datenprojekte bei der Stuttgarter Zeitung und den Stuttgarter Nachrichten, mitgearbeitet. Er ergänzte, „die Geschichte sehen, den Spürsinn dafür zu haben, das kann KI nicht“.
Grüne KI-Schachtel beherrscht Kunst des Schreibens
Eine Zeitungsmarke, die sich bereits auf „Kollege“ ChatGPT eingelassen hat, ist die taz. Dort hat Anic T. Wae eine eigene Printkolumne mit dem Titel „Intelligenzbestie“. Sie ist die/der erste deutschsprachige Kolumnist:in, die/der kein Mensch ist, sondern eine Künstliche Intelligenz (KI). Anics Mitentwickler Dr. Theresa Körner und Robert Salzer gaben bei den #MTM23 Einblicke in Anics Produktion der Kolumnen sowie die bisherigen Erfahrungen im Umgang mit KI.
Dr. Theresa Körner, Torsten Zarges und Robert Salzer (Foto: Medien.Bayern GmbH)
Die Wissenschaftlerin und der Entwickler machten deutlich, wie viel KI sich bereits vor der großen Welle im Herbst 2022 im Einsatz oder in der Testphase befand. So hatte auch Anic, die/der sich selbst als „geschlechtsbinäre, übergroße, leuchtend grüne Schachtel mit einem einzigen, riesigen Auge in der Mitte“ beschreibt und laut eigener Einschätzung „die Kunst des Schreibens beherrscht“, vor dem Durchbruch der ChatGPT-KI das Licht der Welt erblickt. Zum Einsatz kamen dabei unterschiedliche KI-Plattformen, zunehmend Open Assistant.
Die Empfehlung der beiden KI-Coaches: Das Modell sollte beim Prompten mit ungewöhnlichen Wörtern und Sprache aus der Reserve gelockt und so zu Höchstleistungen angespornt werden. Und – ohne menschliche Kuratierung geht es nicht.
Enorm viel Potenzial im Datenmanagement
Das Management in Verlagen versteht KI unterdessen als Wachstumstreiber. Das wurde bei einer weiteren Diskussion im Publishing Track der MEDIENTAGE MÜNCHEN deutlich. Neue Geschäftsfelder könnten erschlossen werden – und zwar nicht nur im Bereich Redaktion, sondern auch in der Produktion, in der Produktentwicklung, im Vertrieb und in der Vermarktung. Digitale personalisierte Produkte, neuartige Publishing-Plattformen, nach Kündigungswahrscheinlichkeiten optimierte Abo-Modelle und auf Basis von KI arbeitende Sales-Einheiten sind nur ein Teil der Möglichkeiten, die aus KI-Algorithmen resultieren.
So versucht etwa die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) mit einem eigenen KI-Projekt, abwandernde Kunden zu binden: Basierend auf verschiedensten Datenpunkten errechnet das System eine Stornowahrscheinlichkeit von 0 bis 100 Prozent. Dieses Ergebnis wird für Vertriebsaktivitäten verwendet. Im Bereich Kundenzufriedenheit setzt die FAZ ebenfalls auf Kollege Computer. Täglich werden unzählige Telefonate, die eingehen, in Echtzeit transkribiert – sofern die Anrufenden dazu ihre Erlaubnis geben. Dadurch soll deutlich werden, was die Gründe für die Unzufriedenheit sind – etwa bei Login-Problemen oder Themenwünschen der Leser:innen. „So erfahren wir in Echtzeit, was die Wünsche und Beschwerden der Leserschaft sind“, erklärte Stefan Buhr, Chief Sales Officer und Leiter des Bereichs Product & Sales der FAZ bei den #MTM23.
Elisabeth Varn, Geschäftsführerin des Burda Verlags, legte bei der Konferenz im House of Communication den größten Augenmerk auf den Vertrieb. „Wir verfügen über große Datenmengen und können dank der KI daraus Trends erkennen“, sagte die Managerin. Sie wies gleichzeitig auf ein Problem hin, das alle Publisher kennen: das der rechtlichen Rahmenbedingungen. „Das ist in diesem Feld am schwierigsten zu lösen“, erklärte Varn. Außerdem gehe es darum, die Mitarbeitenden zu befähigen, mit generativer KI zu arbeiten.
Bei RTL Deutschland, wo 300 Datenexpert:innen beschäftigt sind, wird derzeit viel im Bereich Paid Content, E-Coaching und Social Commerce ausprobiert, wie Carina Laudage, Geschäftsführerin Gruner + Jahr bei RTL Deutschland. Sie hatte ein paar Beispiele im Gepäck, wie KI bei der Content-Erstellung eingesetzt wird, darunter ein Experiment mit Chefkoch.de. Bei den von Nutzer:innen eingesandten Rezepten seien die Fotos häufig unbrauchbar oder fehlten ganz. In solchen Fällen helfe die KI mit künstlich erzeugten Rezeptbildern weiter, zeigte sich Laudage überzeugt.
Carina Laudage, Elisabeth Varn, Sissi Pitzer, Catherin Hiller und Stefan Buhr bei den #MTM23 (Foto: Medien.Bayern GmbH).
Grundsätzliche Fragen zum Umgang mit KI warf dagegen Catherin Hiller, Managing Director von The Data Institute der Funke Mediengruppe, in ihrem Impulsvortrag auf. Sie stellte die Frage: Sind Medienunternehmen wirklich „KIready“, um am Wachstum teilhaben zu können? Haben sich die Unternehmen bereits in die KI-Transformation begeben? Sie zeichnete auf der MTM-Bühne das „Magische Dreieck für Wachstum durch KI“: Es beinhaltet die drei Säulen Architektur, Organisation und Kultur und damit Fragen wie: Wie verwertbar und sicher werden Daten vorbereitet und bereitgestellt? Wie klar sind Prozesse für Business Cases und Verantwortlichkeiten geregelt? Wie realistisch wird in technische und humane Ressourcen investiert? Liefert das Management eine überzeugende und vertrauensstiftende Unternehmens-Vision?
Nach Angaben von Hiller gibt es unter den Publishern bereits viele, die mit Experimentierfreude an das Thema herangehen und bereits einige Projekte in den unterschiedlichsten Bereichen umgesetzt haben. Einigkeit herrschte bei den Teilnehmenden der Panel-Diskussion, dass die KI ein Hilfsmittel sein sollte – und keinesfalls die Redakteur:innen ersetzen dürfe, wie erste Schlagzeilen aus dem Sommer zur Springer-Strategie vermuten ließen. „Wir verlieren sonst an Relevanz und verspielen das Vertrauen unserer Leserschaft“, betonte Stefan Buhr.
Verlagsmenschen und Chefredakteure beschäftigte die KI-Thematik auch im Rahmen des Journalism Summits. Ein wichtiger Diskussionspunkt war dort ebenfalls die Frage der Qualifikation. Welche Skills brauchen Journalisten künftig, gerade im Hinblick auf den Einsatz von KI?
Alle Teilnehmer:innen der Diskussion waren sich darüber einig, dass generative KI wie ChatGPT zwar als Assistenz und auch für die Inspiration hilfreich sei. Doch den Menschen könne sie nicht ersetzen. Ausgewogenheit, Balance, Nuancierung, das mache Journalismus aus, betonte etwa SZ-Chefredakteurin Judith Wittwer. Und BR-Chefredakteur Christian Nitsche sagte, er glaube an die Renaissance des klassischen Reporters. Es reiche beispielsweise nicht, wenn eine Drohne aus einem Überschwemmungsgebiet Bilder der verwüsteten Region liefere. „Es braucht den Reporter oder die Reporterin, der oder die vor Ort ist und die Menschen fragt, wie es ihnen geht“, argumentierte Nitsche. Diese Aufgabe könne keine KI übernehmen: „Korrespondenten haben eine echte Zukunft.“
Eine engagierte Judith Wittwer (Foto: Medien.Bayern GmbH)
Mit Qualität und Dialog aus der journalistischen Beziehungskrise
Mit dem Wohl und Wehe der KI einher geht die Diskussion um die Glaubwürdigkeit von Journalismus, um die weitere Befeuerung der Beziehungskrise zwischen Medien und ihrem Publikum sowie um die gesellschaftliche Verantwortung der Medien in der Berichterstattung. Aus aktuellem Anlass griffen die Teilnehmenden des Journalism Summit 2023 auf konkrete Beispiele rund um den Angriffskrieg auf Israel zurück. Und es ging nicht nur im die Echtheit von Bildern, die im KI-Zeitalter noch bewusster hinterfragt werden muss.
Dr. Jan Busse, Konfliktforscher an der Universität der Bundeswehr München, und Richard Schneider, Journalist und ehemaliger Leiter des ARD-Studios in Tel Aviv, waren sich darin einig, dass Journalist:innen mehr denn je die Aufgabe hätten, alle Informationen zu überprüfen, ehe sie sie verbreiten. Wie schnell Kontrollinstanzen versagen könnten, habe der Angriff auf ein Krankenhaus im Gazastreifen gezeigt. Viele Medien hätten das falsche Narrativ der Terrororganisation Hamas übernommen, Israel stehe hinter dem Vorfall. Schneider empfahl, zunächst einmal auf die eigene Sprache zu achten und zu hinterfragen, was beispielsweise mit Begriffen wie „Hamas-Mann“ eigentlich kolportiert werde.
Neue Erkenntnisse zu einer schlimmen Entwicklung lieferte Prof. Dr. Wiebke Loosen, Senior Researcher für Journalismusforschung am Leibniz-Institut für Medienforschung/Hans-Bredow-Institut in ihrem Impulsvortrag. Für die Studie „Journalismus in Deutschland 2023“ hat sie zur Beziehung zwischen Journalismus und Publikum erforscht. Die Beziehung zwischen den Schreibenden und ihren Rezipient:innen ist ihrer Aussage nach gestört, in den jungen Zielgruppen sei sie teilweise gar nicht vorhanden.
Prof. Dr. Wiebke Loosen (Foto: Medien.Bayern GmbH)
Auf ähnliche Erkenntnisse verwies Peter Kropsch, Geschäftsführer der Nachrichtenagentur dpa: Zwar seien 40 Prozent der 14- bis 24-Jährigen informationsorientiert, aber gleichzeitig sei eben die Mehrheit das nicht. Um auch jüngeren Rezipient:innen die Relevanz von Nachrichten deutlich zu machen, erklärte Kropsch, habe die dpa die Medien-Initiative #UseTheNews auf den Weg gebracht.
Mit einem „Jahr der Nachricht“, das von der dpa initiiert wurde, will die Agentur mit diversen Partnern auf die Bedeutung von vertrauenswürdigen Informationen aufmerksam machen. Es soll vor allem bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen für einen sicheren Umgang mit Nachrichten geworben werden. Geplant ist für 2024 eine Kampagne unter dem Slogan „Nachrichten, die stimmen statt Stimmung machen“.
Sham Jaff, Senior Beraterin für Projekte und Forschung des Bonn Institute, begrüßte die dpa-Kampagne. Um das zerrüttete Verhältnis zum User zu kitten, müsse der Journalismus wieder logischer werden. Sie fordert: Es brauche dafür Menschen, die sich die Zeit nehmen, komplexe Zusammenhänge so zusammenzufassen, dass andere sie verstehen und sich darauf basierend eine Meinung bilden können, um die Gesellschaft aktiv mitzugestalten. Jaff: „Nutzer:innen müssen komplexe Themen besser verstehen können und das Vertrauen in die Berichterstattung wiederfinden“.
Die Zusammenfassungen wichtiger Panel-Diskussionen sowie Bildmaterial der 37. MEDIENTAGE MÜNCHEN stehen in der Mediathek der Medientage-Homepage und auch im Blog der Medientage bereit.
Die Medienthemen können auch gehört werden: im Podcast der Medientage München.
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